Therapeutische Geschichten können besonders Kinder in schwierigen Lebensphasen unterstützen, denn hierbei wird das Kind symbolisch an die Hand genommen und erfährt, dass es in dieser Lage nicht alleine ist. Unbewusst bekommt es Lösungswege aufgezeigt, in dem es sich in den Geschichten wieder erkennt und erfährt wie andere Kinder handeln und fühlen.
Therapeutische Geschichten öffnen auch uns Erwachsenen die Augen. Denn neben all den Gefühlausbrüchen steckt oftmals mehr, als reine Wut, Agression und Lügen und wie viel mehr doch hinter dem Rückzug, Lügen und Eiffersucht bei Kindern stecken kann.
Ebbe und Flut – Eine therapeutische Geschichte
Die kleine Anna durfte das erste Mal mit Ihrem Papa in den Urlaub fahren. Wie sehr hatte sie sich schon seit Wochen auf diese Ferien gefreut – seit Papa ausgezogen ist und sie mit Mama allein in der Wohnung lebt.
Sie durfte mit ihrem Vater alleine weg fahren und das war alles so neu – genaus so neu, wie der Urlaub an der Ostsee, die sie das erste Mal sehen sollte. Ihr Papa hat ihr schon so viel davon erzählt, von den Dünen, dem kleinen Häuschen, wo sie nun die nächsten Tagen verbringen werden und von der Ebbe und der Flut.
Anna wusste nicht genau, wie es werden würde und was nun genau die Ebbe und die Flut sein sollte. Aber es war ihr egal, denn sie hatte ihren Papa ganz für sich allein. Das war genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, besonders die letzte Zeit, wo sie ihn immer seltener gesehen hat.
Zwar hatten sie so manche Wochenenden miteinander, und dennoch war es alles so neu und irgendwie fremd.
Als sie endlich angekommen waren, erkundete Anna zuerst das Haus, sie fand es hübsch, es war zwar klein, aber sehr liebevoll eingerichtet. Alles war neu – genauso wie ihr Leben.
Nachdem sie alle Koffer in das Haus gebracht haben, gingen sie an das Meer, das nur wenige Meter vom Haus entfernt lag – genauso, wie Papa ihr das versprochen hat. Anna lief barfuß durch den warmen und nassen Sand und lies die Wellen um die Füße rauschen und gleiten. All die Sorgen, die sie die letzten Wochen hatte, waren auf einmal für einen kurzen Moment vergessen – genauso, als würde in diesem Moment das Meer die Sorgen wegspülen.
„Du, Papa, was ist denn nun eigentlich Ebbe und Flut“, fragte Anna nach einem kurzen Augenblick der Stille ihren Papa, der ebenso mit nackten Füßen im Sand neben ihr stand.
„Weißt Du, mein Schatz, das zeige ich Dir morgen – lass uns zurück gehen, ich habe einen unglaublichen Hunger, Du nicht auch?“ Er griff nach ihrer Hand und gemeinsam gingen sie zurück zum kleinen Ferienhaus.
Mit einer Kerze beleuchtet aßen Sie im Haus ein Spiegelei, das Papa gemacht hat und Anna fühlte sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Müde und zufrieden kuschelte sie sich am Abend in ihr weiches Bett und dachte noch einmal kurz über den vergangenen Tag nach – so ausgelassen gelacht hatte sie schon lange nicht mehr. Ruhig, entspannt und glücklich schlief Anna ein.
Am nächsten Morgen wachte Anna auf und hörte ein lautes Rauschen, das vom Meer kam. Sie weckte ihren Papa: „Du, Papa, was ist das“… Verschlafen antwortete er,“ Das ist die Flut, sie ist wieder da…“ Anna blickte aus dem Fenster und sah das Wasser, so nah, wie es gestern Abend noch nicht da war.
“ Das Meer kommt jeden Tag zurück – immer wieder aufs neue, Anna. Das ist die Flut.“
„Wirst Du auch immer wieder zu mir zurück komme Papa – wie die Flut?“ frage Anna leise mit gesenktem Kopf.
„Ja, Anna, ich werde immer wieder kommen – das verspreche ich Dir“
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