Ein guter Vorleser bereitet sich vor auf den Text
In meinen Workshops, die ich für Vorleserinnen und Vorleser halte, höre ich immer wieder die Sorge: "Ich bin kein guter Vorleser, denn ich kann nicht aus dem Stehgreif vorlesen. Ich brauche gründliche Vorarbeit, bis ich flüssig und mit guter Betonung vorlesen kann." Ich beruhige die Teilnehmer und kann auch Sie beruhigen, liebe Leser. Für mich zeichnet einen guten Vorleser aus, DASS er sich die Mühe macht, sich den Text zu erarbeiten. Das ist Service für den Hörer. Mit meiner Checkliste gelingt Ihnen das mühelos.
Checkliste: So bereiten Sie sich auf den Text vor:
- Suchen Sie sich am Anfang zum Vorlesen eine Geschichte aus, die einen überschaubaren Umfang hat, gerne mit vielen Illustrationen, zum Beispiel ein Bilderbuch. Bedenken Sie: manche Bilderbücher eignen sich von Inhalt und Gestaltung eher für Erwachsene – Bilderbuch ist nicht gleich Kinderbuch.
- Sehen Sie sich die Bilder und Illustrationen genau an. Beim Vorlesen vor einer Kinder- oder Erwachsenengruppe bleibt dafür keine Zeit. Nur so können Sie die Zuhörer auf Details aufmerksam machen und die Illustrationen gezielt herumzeigen.
- Lesen Sie den Text mehrmals laut. Am besten, Sie nehmen das Vorlesen auf. Die meisten Handys und mp3-Player haben Aufnahmefunktionen. Auch ein Diktiergerät eignet sich. Beim Abhören erkennen Sie messerscharf, ob Sie zu schnell oder zu langsam lesen. Auch Betonungsfehler hören Sie auf diese Weise selbst heraus.
- Stoppen Sie die Zeit, wie lange es dauert, die Geschichte vorzulesen.
- Entscheiden Sie, ob Sie den Text im Original vorlesen. Ist er zu lang, überspringen Sie Teile der Geschichte und fassen Sie erzählend zusammen, was bis zum nächsten Vorleseteil passiert. Auch Begriffe, die sich für Kinder nicht eignen oder erklärungsbedürftig sind, dürfen Sie weglassen oder ersetzen. Oder Sie erklären sie den Kindern vorab oder in einer kurzen Vorlesepause.
- Vor allem, wenn Sie Teile auslassen ist es wichtig, dass Sie Markierungen anbringen, wo Sie weiterlesen – mit Klebestreifen, die sich ohne Rückstände entfernen lassen. Leicht verlieren Sie sonst den Faden und die Aufmerksamkeit der Zuhörer bricht weg.
Darauf achten Sie beim Vorlesen des Textes:
- laut, langsam, deutlich lesen
- keine Endungen verschlucken, kein Dialekt
- Haben Sie Mut zur Pause. Pausen bringen Lebendigkeit und Spannung, ebenso wirkungsvoll ist eine Veränderung des Lesetempos.
- Nutzen Sie genüsslich und bewusst den Klang der Buchstaben: Verschlusslaute: g, p, t, k; Klinger: l, m, n; Reibelaute f, pf, v, w
- Rhetorik-Tipp: Denken Sie an etwas Flauschiges, wenn Sie das Wort “Fell” lesen, denken Sie an etwas Kaltes, wenn Sie das Wort “Eis” lesen.
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Wörtliche Rede hebt den Charakter oder die Stimmung der Figur hervor und macht den Text lebendig. Sie müssen die Stimme dabei nicht verstellen, denn es ist nur mit großer Erfahrung durchzuhalten, bei jeder Figur, die entsprechende Stimme zu treffen. Trotzdem klingt eine strenge Mutter anders, als ein weinerliches Kind.
Über den Erfolg beim Vorlesen entscheidet das Gesamtpaket
Es ist eine ganze Menge zu beachten, um einen Text ansprechend vorzulesen. Doch setzen Sie sich nicht unter Druck. Picken Sie sich immer wieder einen Punkt der Checkliste heraus und setzen diesen gezielt um. Außerdem kann ich aus Erfahrung sagen: Kindern ist es nicht wichtig, dass Sie perfekt lesen. Über den Erfolg entscheidet das “Gesamtpaket”.
Sie sind noch kein Vorleser, sind aber eine leidenschaftliche Leseratte? Vielleicht ist "Vorleser und Lesepate" die perfekte ehrenamtliche Tätigkeit für Sie?