Zeichnen lernen = Sehen lernen: Scharflick oder Weitblick, das ist hier die Frage!

Zeichnen lernen mit Scharfblick oder Weitblick? Lesen Sie hier, wie die Untersuchung einer Lüge Anhaltspunkte auf die verborgene Wahrheit ergeben kann. So weist die aufmerksame Betrachtung einer "optischen" Täuschung auf die besondere Sehweise des naturgetreu Zeichnenden hin.

Scharflick oder Weitblick: Eine optische Täuschung?

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Die Antwort ist: "Jain!".

Wenn Sie meinen, die waagerechten Linien seien nicht genau parallel zueinander, dann sind Sie keiner optischen Täuschung verfallen, wie im verzerrten Spiegel, sondern einer mentalen Täuschung!

Scharflick oder Weitblick: Lernen Sie den Zeichnerblick
Richtiger sehen Sie mit dem "Zeichnerblick". Mit ihm springt das Auge nicht unruhig von einer Stelle zur anderen, in dem verzweifelten Versuch, widersprüchliche Informationen des Sichtbaren zusammenzuführen. Der Zeichner schaut gleichmäßig aufs Ganze, auf alle vier Reihen in ihrer ganzen Länge. Er sieht vor allem die langen waagerechten Linien. Diese erscheinen dann viel stabiler, ruhiger und praktisch parallel.

Wichtig: Das Blickfeld erfasst alle vier waagerechten Linien als eine in sich geschlossene Ganzheit. Keine Linie wird einzeln gesehen, nur alle vier Parallelen zusammen.

Vom Großen ins Kleine im Alltag
Beobachten Sie einmal im Alltag, was passiert, wenn Sie die Augen schließen und wieder öffnen. Sobald Sie die Augen öffnen, erfassen Sie zunächst das gesamte Blickfeld, dann konzentriert sich Ihr Bewusstsein auf einem Gegenstand, anschließend auf einer Einzelheit an diesem Gegenstand und schließlich fokussiert sich Ihr Blick auf einem kleinen Bereich, wie beispielsweise einem Türschloss.

Sobald das Interesse befriedigt ist – meist sofort – wandert der "Blickpunkt" in kleineren oder größeren Sprüngen ruckartig weiter von einem Ort zum anderen. Immer wieder nach dem gleichen Schema vom Großen zum Kleinen, vom Allgemeinen zum Einzelnen.

Vom Kleinen ins Große beim Zeichnen
Entgegengesetzt ist es beim naturgetreuen Zeichnen: Das Blickfeld erweitert sich vom Einzelnen auf die Umgebung. Das, was gezeichnet werden soll, wird ganzheitlich im direkten Zusammenhang mit der Umgebung gesehen. Ebenso wie Sie die vier horizontalen Parallelen gleichzeitig im Blick gehalten haben, ohne auf die vielen Querstriche zu achten.

Scharflick oder Weitblick: Augenspagat

Weitblick

Nun schauen Sie mal bitte auf die "0" in der Mitte der folgenden Symbolreihe. Dann erweitern Sie Ihr Blickfeld so, dass Sie die beiden Herzen links und rechts erfassen und dann auch die beiden Musiknoten und dann die Smileys und dann die Sonne usw. bis zur Zahl "8".

Lassen Sie ihren Blick nicht von einem Symbol zum anderen herüberspringen oder über die ganze Reihe wandern.

Dann kehren Sie zurück zu den scheinbar unparallelen Linien. Betrachten Sie diese mit dem allumfassenden, breiten, schauenden Blick "eines Künstlers". Siehe da: Die schiefen Linien sehen jetzt viel gleichgerichteter aus.

Dieser Augenspagat verlangt Konzentration und Willen! Sein Ziel aber ist das genaue Gegenteil: Ein entspanntes, meditatives Schauen, eine Ausschaltung aller analysierenden Gedanken. Dieser ruhende, passiv aufnehmende Blick aufs Ganze, unterscheidet den zeichnenden Künstler vom "Normalmenschen" und erlaubt es ihm Formen und Proportionen schnell zu erfassen und wiederzugeben.

Auch Sie sind jetzt auf dem richtigen Weg!

Trainieren Sie die Erweiterung Ihres Blickpunktes ("0") zum breiten, weiten Blickfeld.

Nachwort: "Eile mit Weile". Wie ein erlahmter Muskel nicht mit einem Befehl in Form zu bringen ist, so verlangt auch unsere rechte Gehirnhälfte die behutsame Zuwendung mit wohldosierten Übungen, die Ihnen in den nächsten Beiträgen vorgeschlagen werden.