Wie und wann entsteht Geschlechtsidentität? Welchen Einfluss haben Eltern darauf, was ihr Mädchen oder ihr Junge später einmal als typisch weiblich oder typisch männlich empfindet?
„Mama, wann wächst mir eigentlich ein Pimmel?“ Mit dieser Frage überrascht die 4-jährige Lilly Ihre Mutter. Als diese das dem Vater erzählt, reagiert der konsterniert: „Haben wir irgendwas falsch gemacht?“
Wohl kaum. Kinder in diesem Alter haben noch kein wirkliches Geschlechtsbewusstsein. Das liegt nicht unbedingt daran, dass sie dafür keine Entscheidungskriterien hätten. Zum Beispiel haben die meisten Babys ein Faible für hohe Stimmlagen, die ja bei Frauen viel häufiger anzutreffen sind. Vielmehr leben sie noch in einer magischen Welt, in der alles möglich ist.
So auch durchaus der Geschlechterwechsel oder warum nicht: auch wahlweise die Zusammensetzung aus allen möglichen Geschlechtsmerkmalen. Instinktiv scheinen Eltern das nicht zu mögen. Schon in den zartesten Babyflaum werden Haarspängchen befestigt und die Bekleidungsindustrie reagiert unverzüglich auf diese Wünsche mit betont geschlechtsspezifischer Kleidung, zunehmend sogar mit der Tendenz Schnitte und Accessoires der Erwachsenenwelt zu entlehnen.
Die kleinen Menschen sollen möglichst früh und möglichst eindeutig als Junge oder Mädchen erkennbar sein. Das setzt sich in der Gestaltung des Kinderzimmers genauso fort, wie in der Ausstattung mit Spielzeug. Selbst wenn technisch keinerlei Unterschiede zwischen dem von einem Jungen oder einem Mädchen genutzten Gegenstand besteht, muss dieser doch zumindest der jeweiligen Farbnorm entsprechen.
Also z. B. Rosa und Rottöne für Mädchen und Blau und Chromtöne für Jungen. Ob und inwieweit man diesen Trends folgen will, ist Geschmackssache. Das Geschlechterbewusstsein folgt nämlich seiner eigenen Logik.
Im Kindergartenalter gibt es erste Hinweise für den kleinen Unterschied
Zunächst erfassen Kinder im Alter von 3 – 6 Jahren, dass es überhaupt zwei verschiedene Geschlechter gibt. (Selbstverständlich gibt es im Umfeld mancher Kinder natürlich auch intersexuelle Menschen, aber diese Ausnahme wird an dieser Stelle nicht mit beschrieben.) Die meisten Kinder machen das an der schon erwähnten Stimmlage, an der Haarlänge, der Körpergröße und anderen Äußerlichkeiten fest.
Wenn sie Glück haben, können sie in ihrem häuslichen Umfeld Familienmitglieder auch unbekleidet sehen, und dadurch einen weiteren Hinweis auf Geschlechtsunterschiede bekommen. Da diese jedoch in der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden, bleiben die meisten Kinder bei den anfangs erwähnten Kriterien und kommen hin und wieder natürlich auch zu Fehleinschätzungen.
Die eigene Geschlechterzugehörigkeit ist unwichtig und wie im Fall von Lilly wird sie in der Kindergartenzeit noch von vielen Kindern anders phantasiert. Diese Phantasien kann man durch besonders geschlechterspezifisches Einwirken weder verstärken noch mildern.
Bei der Wahl ihrer Freunde sind Kinder im Kindergarten mehrheitlich noch völlig egalitär. Junge oder Mädchen spielt keine Rolle, solange man sich sympathisch findet.
Erst im Grundschulalter entwickelt sich allmählich das Bewusstsein für die Geschlechterrolle
Mädchen und Jungen entwickeln sich körperlich unterschiedlich. Mädchen sind in aller Regel größer und schwerer als die Jungen und bevorzugen den Kontakt zu anderen Mädchen. Jungs rotten sich ebenfalls zusammen. Die Interessen gehen ganz häufig auch tatsächlich auseinander. Viele Jungen sind motorisch sehr aktiv, viele Mädchen spielen gern Rollenspiele.
Alles was Kinder hier von sich aus initiieren ist in Ordnung, braucht aber von Eltern nicht unbedingt unterstützt zu werden. D. h. einem Fußball-begabten Mädchen, wie einem tänzerisch ambitionierten Jungen tut es gut, in seiner Eigenart ganz einfach angenommen zu werden. Weder zeigt sich darin eine Tendenz zu einer Verweiblichung oder Vermännlichung, noch lässt sich dadurch die spätere sexuelle Orientierung voraussagen.
Dies ist Hintergrund vieler Ängste bei Eltern. Wie wir heute wissen: gegenstandslos. Die Forschung geht davon aus, das homosexuelle Veranlagungen vererbt und unumkehrbar sind. Was die spätere sexuelle Orientierung betrifft, können Sie also nichts falsch und nichts richtig machen, außer eine gute Beziehung zu ihrem Kind zu pflegen.
In der Pubertät gewinnt die Geschlechtszugehörigkeit entscheidend an Bedeutung
Nachdem sich Mädchen und Jungen in der Grundschulzeit also zunehmend in ihre Rolle einfinden und nach Vorbildern für die von ihnen erwünschte Männlichkeit und Weiblichkeit suchen, treten sie dann zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die Pubertät ein.
Der eigentliche Sprung in das Geschlecht findet erst jetzt statt und damit ein großer Umbruch, an den sich die meisten Erwachsenen nur mit Unbehagen erinnern. Erst die Geschlechtsreife bringt durch die vollständig unterschiedliche Hormonlage bei Frau und Mann also die identitätsstiftende Wirkung des jeweiligen Geschlechts zum Vorschein.
Was bedeutet das für Sie als Eltern?
- Geschlechtsidentität ist ein Selbstläufer. Eltern können hier weder viel falsch, noch viel richtig machen
- Die sexuelle Orientierung ist nicht erlernbar, also auch nicht erziehbar.
- Bei der Geschlechterrolle haben Eltern jedoch eine große Bedeutung. Hier zeigt die Forschung, dass die eigene Mutter und der eigene Vater das prägendste Model für Frausein und Mannsein überhaupt sind – Ihre Werte, ihr Agieren in Beruf, Elternschaft und sozialem Leben wird in aller Regel das Lebenskonzept ihres Kindes mitbestimmen.
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