Niemals das Gesicht verlieren: Die japanische Mentalität verstehen

Niemals das Gesicht zu verlieren, ist eines der wichtigsten Ziele eines jeden Japaners und eine Grundregel des japanischen Denkens. Ein Japanreisender sollte sich darüber stets bewusst sein, um Fettnäpfchen zu vermeiden. Wie verhalten Sie sich richtig in Japan?

Besonders im Jahr 2011 erlitt das wirtschaftlich starke und fortschrittliche Japan etliche schwere Naturkatastrophen. Am 11.3.2011 löste ein Erdbeben der Stärke 9,0, das als das stärkste in Japan gemessene Erbeben bezeichnet wurde, einen Tsunami aus, der weite Gebiete an Japans Ostküste auf der Hauptinsel Honshu zerstörte.

Dies wiederum führte zu einer atomaren Katastrophe, als etliche durch das Unwetter schwer beschädigte Atomkraftwerke außer Kontrolle gerieten, vor allem das Kraftwerk in Fukushima, im Norden Tokyos. Die gesamte Umgebung von Fukushima wurde verstrahlt und selbst Tokyo wochenlang von radioaktiven Winden heimgesucht.

Nur wenige Monate danach peitschten Wirbelstürme über Japan und töteten etliche Menschen. Der schlimmste Taifun namens Roke erreichte das Land im September 2011 und richtete viele Schäden in Tokyo an, worauf er Kurs auf Fukushima mit seiner havarierten Atomanlage nahm. Entgegen der Befürchtungen vermochte er jedoch keine bedeutenderen Schäden anzurichten.

Obwohl die Japaner von Desastern wie diesen heimgesucht werden, bleiben sie außergewöhnlich ruhig und zeigen keinerlei Anzeichen von Panik oder Hysterie. Sicher fragen auch Sie sich, woher die Japaner diese scheinbare Ruhe und Disziplin in Zeiten schlimmster Unglücke nehmen. Hier bekommen Sie Antworten, inwiefern die Japaner anders denken als wir und wie Sie sich als Japanreisender verhalten sollten, damit niemand „das Gesicht verliert“.

Gefühle zeigen schickt sich nicht

Menschen sind mit einem breiten Spektrum an Gefühlen ausgestattet. In Deutschland und vielen weiteren westlichen Ländern tendieren die Menschen dazu, ihre Emotionen nach außen zu zeigen.

In Japan hingegen gilt es als höchste Tugend, Gefühle zu verbergen und der Außenwelt keinesfalls zu eröffnen, wie man sich wirklich fühlt. Eine Person, die besonders emotional handelt oder in der Öffentlichkeit Wut, Angst oder weitere Gefühle zeigt, verliert ihr Gesicht und lässt andere ihr Gesicht verlieren, die mit den emotionalen Ausbrüchen nicht umzugehen wissen.

Bezeichnet wird hierbei nicht das Gesicht im physischen Sinne, sondern das Ansehen einer Person beziehungsweise ihr Image. Die japanische Erziehung umfasst Zügelung, Beherrschung und Disziplin. Laut Folker Streib, lange Zeit Chef der Commerzbank und Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokyo, gilt das Ertragen von Leid in Japan als heldenhaft.

Die meiste Anerkennung finden in der Gesellschaft Menschen, die ihre persönlichen Gefühle zurückzustellen wissen und auch im Angesicht schwerster Krisen noch mit einem Lächeln aufzuwarten vermögen.

Gemeinschaftsdenken

Die Japaner organisierten sich über mehrere Jahrhunderte hinweg als hierarchisch gegliedertes Volk. Auch heute haben Hierarchien sowohl im Privat- als auch Berufsleben der Japaner eine große Bedeutung. Jede einzelne Person hat eine bestimmte Position in dieser Hierarchie, und diese Position gilt es bestmöglich zu erfüllen.

Erst hierdurch gewinnt ein Individuum an Wert und bekommt einen Sinn in der Gruppe, für deren Wohl es sich einsetzt. In Japan steht im Gegensatz zu vielen westlichen Gesellschaften nicht Selbstverwirklichung eines Individuums im Vordergrund, sondern stets die Gemeinschaft.

Die japanische Erziehung baut demnach auf Selbstlosigkeit und der Bereitschaft, der Gesellschaft zu dienen. Im Angesicht einer Krise hat der wohlerzogene Japaner also nicht in erster Linie an eigene Verluste zu denken oder an das eigene Schicksal.

Verspürt er dennoch Panik, Angst oder andere starke Emotionen, so sollte sie der Japaner nicht direkt kommunizieren, da dies für die Gemeinschaft kontraproduktiv ist und eher zu noch mehr Unbehagen unter anderen führt.

Der japanische Umgang mit Vergänglichkeit

Auch die Einstellung der Japaner zu Tod und Vergänglichkeit ist anders als die der Deutschen oder anderer Europäer. Im Buddhismus, einer der größten Religionen Japans, spricht man von einem ewigen Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt. Verlust und Vergänglichkeit gelten als natürliche Bestandteile dieses Kreislaufs und damit alles Lebens.

Viele Japaner betrachten somit Zerstörung durch die Natur als notwendigen, unvermeidbaren Teil ihres Lebens. Die japanische Kultur wird besonders geprägt von dem Glauben daran, dass nichts für die Ewigkeit geschaffen ist, was sich unter anderem im jährlichen Kirschblütenfest manifestiert.

Die Japaner verehren die Kirschblüte, sakura, Jahr für Jahr und veranstalten große Kirschblütenfeste. Hiermit genießen sie die kurze Blütezeit des Kirschbaumes in dem Bewusstsein, dass diese allzu schnell vorbei sein wird.

Fazit für den Japanreisenden

Um das Denken der Japaner und ihre über Jahrhunderte kultivierten Werte nicht zu verletzen empfiehlt es sich, Folgendes in jedem Fall zu vermeiden:

  • Selbst wenn Sie im Angesicht bestimmter Umstände starke Gefühle wie Wut, Angst, Trauer oder auch Freude spüren – zeigen Sie diese nicht. Emotionsausbrüche in Form von Schreien, panischem Verhalten und Tränen sollten lieber einem beherrschten Lächeln weichen.
  • Stellen Sie sich selbst nicht in den Vordergrund. Da den Japanern Individualismus suspekt ist, fühlen sie sich eher abgestoßen von Menschen, die zu viel über sich selbst reden oder ihre eigenen Vorzüge hervorzuheben suchen.
  • Seien Sie nicht zu direkt und werfen Sie einem japanischen Gesprächspartner nicht Ihre persönlichen Meinungen an den Kopf. Japaner sind diskret und versuchen, möglichst neutrale Aussagen zu machen, um niemanden zu verletzen.
  • Versuchen Sie nicht, einen Japaner von Ihrer Meinung zu überzeugen. Er bekommt dadurch den Eindruck, dass Sie ihn als minderwertig ansehen und kann dadurch schnell sein Gesicht verlieren.

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