Heilpraktiker: Ist es nicht merkwürdig, dass Heilpraktiker auf der Grundlage eines Nazigesetzes arbeiten? Lesen Sie über die politischen und geschichtlichen Bedingungen für die Entstehung eines deutschen Sonderfalles.
Heilpraktiker: Zur geschichtlichen Entstehung eines deutschen Sonderfalles
Wieso gibt es überhaupt Heilpraktiker? Eine berechtigte Frage angesichts der Tatsache, dass es diesen Beruf mit rechtlich definiertem und abgesichertem Status nur in Deutschland gibt: Ein zweiter freier Heilberuf mit annähernd gleichen Befugnissen wie die Ärzte, wenn auch mit gewissen Einschränkungen (siehe rechtliche Grundlagen) ist wirklich einmalig.
Natürlich gab und gibt es überall auf der Welt Menschen, die die Heilkunde ausüben und damit oftmals verblüffende Erfolge erzielen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Schulmedizin ein sehr moderner Sonderfall in der großen Landschaft der gesamten Medizin und ihrer Traditionen ist.
Dennoch müssen sich natürlich auch die traditionellen Methoden Fragen nach Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gefallen lassen und sollten um Antworten nicht verlegen sein. Ob allerdings Doppelblindstudien und mechanistisches Denken die dafür tauglichen Instrumente sind, sei zumindest in Frage gestellt.
Wie kam es aber dazu, dass in Deutschland die vielfältigen heilerischen Bemühungen wie Kräuterheilkunde, Wasseranwendungen, Homöopathie, um nur einige zu nennen, einen rechtlich sicheren Rahmen, nämlich das Heilpraktikergesetz, bekamen?
Heilpraktiker: Die Situation im Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Es war eine Zeit des Aufbruchs in vielerlei Hinsicht. Die Industrialisierung und das Leben in den Städten zeigten ihre Schattenseiten deutlich und auf extreme Weise. Man begann nach Alternativen zu suchen. Sehnsucht nach Ursprünglichem und Naturverkitschung, Volksgesundheitsbewegung, Wandervogel, Freikörperkultur und vieles mehr waren Versuche von Antworten.
Auch in der Medizin wandte man sich wieder der Natur zu, zumal die Pharmazie noch in den Anfängen steckte, so dass auch eine Reihe von Ärzten mit Pflanzen und Naturheilverfahren arbeiteten. Man denke an Gerhard Madaus, den Mitbegründer der noch heute existierenden recht bekannten Firma Madaus, die u. a. Echinacin herstellt, auch wenn sie sich in den letzten Jahren bedauerlicherweise von Ihren naturheilkundlichen Ursprüngen entfernt hat.
Außerdem gab es eine wachsende Bewegung von Laienbehandlern, die mit Wasseranwendungen (Kneipp, Prießnitz u. a.), Homöopathie, Heilpflanzen oder den Schüßlerschen biochemischen Mitteln behandelten.
Viele Menschen hatten sich von der Schulmedizin abgewandt, entweder, weil sie keine Hilfe fanden oder auch aus Weg- und Kostengründen. Ärzte waren rar und teuer.
Heilpraktiker: Die Gesundheitspolitik im Nationalsozialismus
Es kann hier nur kurz umrissen werden, doch ließen sich große Teile der „zurück zur Naturbewegung“ von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis einfangen und für die sogenannte Neue Deutsche Heilkunde instrumentalisieren. Die an sich richtigen präventiven Ansätze der weitgehend unpolitischen Naturheilkundler wurden so für die Stählung des deutschen Menschen umgedeutet und Gesunderhaltung zur „Pflicht des Einzelnen gegenüber dem Volkskörper“. Die Weiterführung dieser Gedanken führte dann zur Euthanasie.
Die Einbindung der Laienbehandler in die NS-Gesundheitspolitik und deren Legalisierung war in der NSDAP stark umstritten, gab es doch neben den Natur und Mythen verherrlichenden Teilen auch die der (pharmazeutischen) Industrie zugewandten Strömungen. Sie führte erst im Februar 1939 zum Erlass des Heilpraktikergesetzes.
Man wollte so die fähigen Naturheilkundler einbinden, sie allerdings Ihrer „völkischen Aufgabe des Aussterbens“ zuführen, daher das Ausbildungsverbot. Später sollte dann der naturheilkundlich beschlagene Arzt zum „Gesundheitsführer“ der Nation werden.
Natürlich muss man das HP-Gesetz auch als Teil der Kriegsvorbereitung sehen. Die medizinische Versorgung der heimischen Bevölkerung sollte sichergestellt werden. Viele jüdische und sozialistische Ärzte waren bereits tot und die meisten verbliebenen brauchte man an der Front.
Mir erscheint es als Heilpraktiker immer wieder grotesk, auf welcher geschichtlichen Grundlage die Legalität meines Tuns beruht. Ich werde nicht müde, den Schülern diesen Aspekt nahe zu bringen. Auch die Naturheilkunde hat ihre unrühmliche Geschichte, der sie sich bewusst sein sollte, anstatt so zu tun als wäre sie die „bessere Medizin“.
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