Der Paulus-Effekt: Warum wir tun, was wir hassen – und wie das zu ändern ist

Es sind die mit Abstand am meisten gestellte Fragen am Lesertelefon: Wie schaffe ich es, das Erkannte und Beschlossene auch umzusetzen? Wie komme ich vom Denken zum Handeln? Warum verfalle ich immer wieder in den alten Schlendrian, obwohl ich doch mit aller Macht heraus will? Solches Wollen-und-nicht-Können gibt es in allen Lebensbereichen.
3 Beispiele:
  • Katja weiß, dass ihre berufliche Zukunft von ihren Kenntnissen der neuen Firmensoftware abhängt. Aber jedes Mal, wenn sie die dicke Anleitung zur Hand nimmt, überkommt sie ein solcher Widerwille, dass sie regelrecht Reißaus nimmt. Sie könnte sich ohrfeigen für ihre Unlust.
  • Ernst hat Übergewicht. Wenn er in den Spiegel schaut, findet er sich grässlich. Er weiß, dass er seine Ernährung umstellen und Sport treiben sollte. Aber wenn er an der Haustür steht, um einen Spaziergang zu machen, geht er zurück in die Küche und setzt sich mit Chips und einem kühlen Bier vor den Fernseher.
  • Inge macht ihrem Mann immer wieder heftige Vorwürfe. Obwohl sie ihn liebt und froh ist, ihn zu haben, beschimpft und beleidigt sie ihn regelmäßig, wenn er abends müde von der Arbeit kommt. Wenn sie am nächsten Vormittag wieder allein ist, versteht sie sich selbst nicht.

Kennen Sie das? Haben Sie auch eingefahrene Handlungs- und Vermeidungsmuster, über die Sie selbst den Kopf schütteln? Bei denen Sie sich schwach und hilflos vorkommen? Kleiner Trost: Sie sind damit nicht allein.

Seit biblischen Zeiten nichts Neues
Das Phänomen ist seit langer Zeit bekannt. Schon der Apostel Paulus hat es im Neuen Testament in seinem Brief an die Römer (7, 19) beschrieben: "Nicht, was ich will, tue ich, sondern was ich hasse."

Der amerikanische Psychologe Phillip McGraw hat eine einleuchtende Erklärung für dieses scheinbar unerklärliche Verhalten gefunden: Die Menschen verhalten sich so, weil es funktioniert. Auf der Ebene des Bewusstseins wollen die handelnden Personen nicht so handeln.

Auf einer tieferen Ebene aber erfüllt die unerwünschte Tat einen wichtigen Zweck und wird belohnt. Der Zweck ist so bedeutsam, dass dafür auf der bewussten Ebene alle möglichen unangenehmen Konsequenzen in Kauf genommen werden.

Die helle und die dunkle Seite der Belohnung
Der Paulus-Effekt hat stets eine nützliche Seite: Er bewahrt Katja vor Überarbeitung,spendiert Ernst während des Essens eine gesunde Portion Lebensfreude, gibt Inge gegenüber ihrem Mann ein Gefühl von Stärke, das sie nach dem aufreibenden Alltag mit den Kindern gut gebrauchen kann. Aber er hat ebenso einen zerstörerischen Aspekt: Er kann unter anderem

  • Katja in Arbeitslosigkeit und Frust bringen,
  • Ernst zu einem Süchtigen machen,
  • Inges Ehe zerstören.

Was wirkt, bleibt
Warum aber bleiben gerade die Verhaltensweisen, die wir am meisten hassen, am hartnäckigsten? Selbst dann, wenn wir die Zweischneidigkeit der möglichen Belohnung erkannt haben? Weil darunter noch eine tiefere, höchst wirksame Bedeutung verborgen ist. Um den Paulus-Effekt umzukehren, ist es notwendig, die Bedeutung dieser tiefsten Ebene zu erkennen und zu benennen.

Das Erstaunliche daran: So gut wie immer ist das Motiv Liebe, wenn auch in einer eigenartig verdrehten Form. Bei unseren Beispielen könnte das sein: Katja wäre lieber Malerin geworden wie ihre Mutter. Die aber ließ das nicht zu, weil sie unter der mangelnden Sicherheit sehr gelitten hatte. Nun protestiert Katja gegen ihren Bürojob – aus Liebe zu Ihrer Mutter.

  • Ernsts Frau leidet darunter, dass sie nicht mehr so attraktiv aussieht wie früher. Aus Liebe wird auch er "unansehnlich".
  • Inge war vor ihrer Ehe von einem Mann verlassen worden und dadurch tief verletzt. Nun „verbietet" sie sich die Liebe zu ihrem Mann, damit sie nie wieder so verletzt werden kann.

Sich beschenken lassen
Die alten Handlungsmuster sind so hartnäckig, weil unser Unterbewusstsein es nicht wagt, das Geschenk anzunehmen, das in jeder Belastungssituation enthalten ist. Es sucht stattdessen nach einem Weg zu "bezahlen".

Die Lösung liegt darin, das liebevolle Geschenk zu akzeptieren:

  • Katja sagt Ja zu den Anstrengungen ihrer Mutter, sie einen Beruf lernen zu lassen, der Sicherheit verspricht. Das macht sie frei, sich fortzubilden – oder Künstlerin zu werden.
  • Ernst nimmt die Liebe seiner Frau und seine Liebe zu ihr an – als Geschenk, das von Äußerlichkeiten unabhängig ist.
  • Inge erlaubt sich ihre Liebe zu ihrem Mann – auch auf die Gefahr hin, dadurch schwach und verletzlich zu werden.

Das beendet den negativen Paulus-Effekt: loslassen, die eigenen Anstrengungen beenden, die Gabe empfangen.

Die Gedanken von Phillip McGraw sind zu finden im 4. Kapitel seines Buchs "Life Strategies", Vermillion, London 1999. 9,99 brit. Pfund. ISBN 0-09-181999-7. Auf Deutsch nicht erschienen.