Demenz für Fortgeschrittene: Trauer ist Liebe

Liebe ist Trauer. Dieses Paradox können wir höchstens ertragen, wenn "es vorbei" ist. Müssen wir es jedoch wegen einer Demenz jahrelang erleben, dann wird das Paradox unerträglich und kann ganz schön belastend werden. Der Demenzkranke führt unter Umständen alle Regeln einer Beziehung ad absurdum. Sie erleben gemeinsam das Paradox, dass nichts ist, wie es scheint, und selbst das wunderbare Gefühl der Liebe gleichzeitig die Tiefe der Trauer in sich trägt.

Demenz: Beziehungen werden auf die Probe gestellt
Die Begleitung von Demenzkranken ist voller Paradoxe und daher sehr anspruchsvoll. Bei den meisten anderen Krankheiten des Alters kann der pflegende Angehörige entsprechend handeln, auch wenn es immer schwierig ist. Im Zusammenhang mit Demenz wird die Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Misstrauen, Lügen und Kurzschlusshandlungen schleichen sich meist über Jahre in die Beziehung ein.

Hat der Angehörige einmal erkannt, dass eine Demenz vorliegt, heißt es noch lange nicht, dass der Betroffene selbst dies anerkennt und auch von Seiten der Pflegekassen und professionellen Stellen kommt oft erst sehr spät (oder gar nicht) Unterstützung. Dabei ist die Beziehung zwischen Angehörigen und Betroffenen hochgradig mit emotionalen Prozessen belastet.

Trauer setzt immer eine Beziehung voraus, Beziehungen mit ihren schlechten und mit ihren guten Erfahrungen. Und wie in der Liebe und in jeder Beziehung sollten diese Gefühle auch in der Trauer von dem, der damit leben muss, selber ausgedrückt werden. Dieses "Selber ausdrücken" und "Begreifen" könnte Ungelöstes lösen, doch meistens sind die Betroffenen dazu gar nicht in der Lage.

Das Thema "Demenzerkrankungen" wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Denn mit der ständig steigenden Lebenserwartung der Menschen steigt auch das Risiko, an einer Demenz zu erkranken.

Bei Menschen, die an Demenz erkrankt sind, fehlt anfangs oft die Krankeitseinsicht
Die Haltung eines liebenden Angehörigen ist im besten Falle: "Wenn mein Partner (meine Mutter, meine Cousine) schwer krank ist, helfe ich ihm, wo ich kann." Demenzkranken fehlt im Anfangsstadium, das recht lange dauern kann, meist die Krankheitseinsicht. Dies hat zur Folge, dass das Hilfsangebot sehr oft ad absurdum geführt wird.

Wir sind gefragt, tiefe psychologische und emotionale Prozesse mit dem Kranken zu durchleben und können uns meistens auch nicht aus diesen Prozessen entziehen, denn die Beziehung, die sich während des Lebens aufgebaut hat, ist nicht so einfach wegzudenken. Jetzt wird alles in Frage gestellt, jeder kleine Handgriff, jede Gewohnheit, jedes Muster. Alles, was diese Liebe ausgemacht hat, wird ihr nun abverlangt. Wie groß muss die Liebe sein um diesen langen Prozess durchzumachen?

Abschied in Portionen – eine Sisyphusarbeit
Eben haben Sie Harmonie erlebt und ganz plötzlich wendet sich das Blatt und Trotz, Verbohrtheit, Misstrauen, Aggression richten sich gegen Sie, obwohl Sie doch nur helfen wollen. Gegen die Kürze und die ständige Wiederholung der Vorgänge sind Sie so machtlos, dass sie weglaufen wollten.

Aber Sie können nicht, denn Sie stecken in dieser Beziehung. Sie haben geliebt und lieben noch. Sie sind auf so vielen Ebenen mit dem Kranken verbunden und es ist so schwer, sich von dem Menschen zu lösen, der unter dieser unsichtbare, so wenig körperlich fassbaren Krankheit leidet. Wie schaffen sie es, einen gesunden Abstand zu halten? Ihre Liebe steht vor einer der größten Herausforderungen, nämlich Loslassen und Halten gleichzeitig.

Mehr als 1,2 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundebürger leiden an Demenz
Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums leiden mehr als 1,2 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundebürger an Demenz. Bei schätzungsweise 800.000 von ihnen geht der Verlust des Erinnerungsvermögens und der Fähigkeit, klar zu denken und Zusammenhänge zu erkennen, mit schweren Verhaltensauffälligkeiten einher: Rasche Stimmungsschwankungen, Misstrauen gegenüber Angehörigen, Aggression, kindliches Gebaren, Wahnvorstellungen, unruhiges Umherlaufen in der Nacht.

Meist ändert sich auch die Persönlichkeit der Betroffenen. All diese Symptome müssen Sie erst einmal schmerzlich erfahren, bevor Sie sie in die Demenzkrankheit einordnen können und akzeptieren können, dass Ihr Angehöriger betroffen ist. Sie sind mit betroffen.

Sie werden unter diesen Umständen auch durch Trauer gehen. Unterstützung durch Ihr soziales Umfeld wird für Sie sehr wichtig sein. Professionelle Unterstützung ist manchmal unumgänglich, damit Sie die Beziehung, die Sie auf diese harte psychologische Probe stellt, gut überstehen.

Trauer erleben wir bei einem Abschied, bei negativen Entwicklungen aus denen wir uns lösen müssen, meistens möglichst spät und möglichst kurz. Die Demenzkrankheit zwingt uns, lange durch diesen Prozess zu gehen; es ist ein Abschied auf Raten. Aus Liebe lassen wir uns auf Trauer ein. Trauer ist Liebe.

Buchtipp

  • Gesichter von demenzkranken Menschen: Ein kunsttherapeutisches Projekt für Alten- und Pflegeheime.