Diese Nachricht klingt so sensationell, dass das auch die Experten in der BENEFIT-Redaktion sie zunächst nicht glauben wollten. Sicher ist: Bei den beiden Forschern handelt es sich nicht um Scharlatane, die Huxleys schöne neue Welt auferstehen lassen wollen, sondern um ernst zu nehmende, renommierte Mediziner vom Wolfson Institute of Preventive Medicine in London.
Ihre so genannte Polypille entwarfen sie, nachdem sie die Wirksamkeit verschiedener Medikamente, die an 40.000 Menschen in insgesamt 750 verschiedenen Studien getestet wurden, analysiert hatten. Daraus wählten sie diejenigen Medikamente, die als sicher wirksam gelten, aus. Die neue Polypille soll demnach sechs Wirkstoffe enthalten:
- ein Cholesterin-senkendes Mittel
- drei Blutdruck-senkende Arzneien
- Aspirin
- Folsäure
Aus den verschiedenen Wirksamkeiten der kombinierten Arzneimittel errechneten die Forscher, dass 30 von 100 Männern, die die Polypille ab dem 55. Lebensjahr einnahmen, einen Herzinfarkt, eine Angina pectoris oder einen Hirnschlag vermeiden und ihr Leben um 13 Jahre verlängern könnten. Bei Frauen würde diese Quote 24 von 100 betragen, ihr Leben würde sich um durchschnittlich 14 Jahre verlängern.
Wie bei Medikamenten üblich, müsste auch hier mit Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen gerechnet werden. Die Forscher schätzen allerdings, dass nur 8 bis 15 von 100 Menschen die Polypille aus diesen Gründen nicht nehmen bzw. wieder absetzen müssten.
Die auf diese Weise hochgerechneten Therapieerfolge sind unschlagbar und kämen einer medizinischen Revolution gleich. Millionen von Menschen schlucken bereits täglich verschiedene Kombinationen der Polypillen-Inhaltsstoffe als Therapie gegen eine diagnostizierte Erkrankung, oder um ein bekanntes, bestehendes Risiko zu verringern. Die beiden britischen Professoren plädieren nun dafür, dass alle Menschen ab dem 55. Lebensjahr, sowie alle anderen, die an zu hohem Blutdruck oder Herzkrankheiten leiden, die Polypille einnehmen sollten. Unabhängig davon, ob die Risikofaktoren bei ihnen nachgewiesen seien oder nicht, da die Wirkungen der Pille für alle denkbaren Ausgangsrisiken berechnet wurden. Die Kosten der Polypille lägen zudem unter den Kosten regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen für die Herz-Kreislauf-Risikofaktoren. Erste Berechnungen ergaben einen Endverbraucherpreis von 1,55 Euro pro Polypille und Tag.
So faszinierend die Idee einer täglich eingeworfenen Pille, die viele gesundheits- und lebensbedrohende Risiken in Schach halten kann, auch ist, sie "darf jedoch kein Freibrief für einen ungesunden Lebenswandel werden", warnt der Direktor der British Heart Foundation, Sir Charles George, und fügt hinzu: "Wir dürfen das Ansteigen von Fettleibigkeit, Bewegungsarmut, Diabetes und die ansteigende Zahl jugendlicher Raucher dadurch nicht aus den Augen verlieren."
Diese Gefahr sehen auch Wald und Law. Sicher könnte ein gesünderer Lebenswandel (nicht rauchen, mehr bewegen, veränderte Ernährungsgewohnheiten) ein ähnlich positives Ergebnis wie die Polypille bewirken. Doch es sei naturgemäß schwieriger, die Menschen davon zu überzeugen. Solange die halbe Bevölkerung Großbritanniens früher oder später an Herzinfarkt oder Schlaganfall sterbe, gäbe es zu ihrer Pille keine Alternative, argumentieren sie.
Kritiker bemängeln vor allem die mit dem großflächigen Einsatz der Polypille verbundene Abkehr von der bisherigen auf Vorsorge und Normalwerten basierenden Individualmedizin zu einer Kollektivmedizin, bei der auch klinisch Gesunde Arzneimittel verabreicht bekämen. Zudem sei das mathematische Modell der Briten und ihre Hochrechnungen angreifbar. Doch diese haben bereits ein Patent auf ihre Erfindung angemeldet und treiben die klinische Erprobung voran.
Fazit: Die Idee und die vorausgesagten Vorteile sind faszinierend. Ob die bisher nur mathematisch hochgerechneten Erfolge tatsächlich eintreten, ob die Polypille wirklich Ihr Leben verlängern kann, und mit welchen Nebenwirkungen Sie rechnen müssen, werden die klinische Erprobung und anschließende Langzeitstudien zeigen. Ob dann die Polypille tatsächlich auch von Gesunden eingenommen werden sollte, bleibt diskussionswürdig. Schließlich würde der Mensch dann einmal mehr seiner Selbstverantwortung enthoben, da die tägliche Pille ein weitaus bequemer Weg der Vorsorge ist als die aktive, eigenverantwortliche Gesundheitsvorsorge über einen angemessenen Lebenswandel wie z. B. gesunde Ernährung und ausreichende Bewegung. Bei allen Vorbehalten muss anerkannt werden, dass die Chancen für einen wirksamen Vorstoß auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen gut stehen.
Quelle: Proff. Nicholas Wald & Malcolm Law, Wolfson Institute of Preventive Medicine, London