„Aufsicht muss Banken beim Kundengeschäft auf die Finger schauen“

Herbst 2008: Die US-Bank Lehman Brothers Inc. ist pleite, deutsche Anleger haben mit Zertifikaten teils riesige Verluste erlitten. Eine Banken- und Wirtschaftskrise beginnt, in der Millionen Verbraucher um ihr Erspartes zittern. Die Politik kündigte mehr Verbraucherschutz an.

Herbst 2011: Wieder wanken die Banken, wieder droht eine Krise. Was hat sich geändert? experto.de sprach mit Gerd Billen, Deutschlands oberstem Verbraucherschützer. Der Chef vom Bundesverband der Verbraucherzentralen zieht eine bittere Bilanz:
‚Im Großen ist fast nichts passiert."

Was hat sich in den vergangenen drei Jahren zum Positiven verändert?

Im Kleinen hat sich in der Tat etwas bewegt, z. B. bei der Verjährungsfrist für Falschberatung. Leider kommen die Lehman-Geschädigten nicht in den Genuss dieser Vorschrift. Die Anlageberatung muss protokolliert und die Dokumentation muss ausgehändigt werden. Die Umsetzung ist bisher noch nicht verbrauchergerecht.

Und was nicht?

Der Verkauf von riskanten Papieren geht fröhlich weiter. Die Banken sanieren sich auf Kosten der Verbraucher, weil sie die Leitzinssenkungen nicht bei den Kreditzinsen an die Verbraucher weitergeben. Hier ist die Aufsicht stärker gefordert, für die kollektiven Interessen der Verbraucher tätig zu werden.

Auch im Großen ist fast nichts passiert. Die Griechenland-Krise und damit im Zusammenhang stehenden Wetten gegen den Euro haben gezeigt, dass bisher allenfalls eine Folgenbeseitigung vorgenommen wurde, aber keinesfalls etwas gegen die Ursachen getan wurde.

Neu sind die Beratungsprotokolle der Banken – was nutzen sie?

Die Protokolle lassen meist nicht erkennen, wie das Beratungsgespräch tatsächlich abgelaufen ist. Das Ziel, ein funktionierendes Beweismittel zu erzeugen, ist bislang nicht erfüllt. Die Protokolle dienen augenscheinlich primär dem Ausschluss von Haftungsrisiken bei den Banken. Dazu passt dann auch, dass viele Banken von ihren Kunden verlangen, das Protokoll zu unterzeichnen. Dies widerspricht dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers.

Sie fordern eine Marktaufsicht, die eine Warnfunktion übernimmt. Wie stellen Sie sich das vor?

Die Aufsicht muss den Banken beim Kundengeschäft auf die Finger schauen. Prävention sowie Verbraucher- und Marktorientierung müssen dafür gestärkt werden. Die Behörde muss den gesetzlichen Auftrag erhalten, sich auch um Verbraucherschutz und die Kontrolle des Marktverhaltens zu kümmern. Dies ist unser wichtigstes Ziel im Rahmen der anstehenden Reform der deutschen Finanzaufsicht.

Gerne würden die Verbraucherzentralen zum Marktwächter werden. Vor Lehman-Zertifikaten hat aber auch kein Verbraucherschützer rechtzeitig gewarnt…

Zertifikate sind – nicht erst seit der Lehman-Pleite – für Normalanleger grundsätzlich ungeeignet. Wir fordern deshalb seit langem ein Verkaufsverbot an Privatanleger. Verbraucherzentralen und Stiftung Warentest erkennen unabhängig davon durch ihren engen Kontakt zum Verbraucher und zum Markt frühzeitig Missstände und fungieren dabei als Frühwarnsystem. Der Finanzmarktwächter beobachtet und analysiert die Finanzmärkte und das Marktverhalten der Anbieter aus Verbrauchersicht, nicht jedoch konkrete Produkte.

Es hat manchmal den Eindruck, Verbraucher würden vor dem Autokauf dutzende Kataloge wälzen – Finanzentscheidungen aber ohne größere Prüfung treffen.  Ist nicht auch der Verbraucher selbst gefordert?

Das Informationsgefälle ist ein anderes: Beim Auto handelt es sich um ein Erfahrungsgut, bei Finanzdienstleistungen eher um ein Vertrauensgut. Dem Verbraucher wirft auch niemand vor, dass er sich auf einen Rat des Arztes verlässt. Der Skandal ist doch, dass er sich vielfach nicht auf den Rat seines "Finanzberaters" verlassen kann. Sicherlich sollte auch die finanzielle Allgemeinbildung verbessert werden.

Für eine unabhängige Beratung ohne Provisionsinteressen mag aber kaum ein Verbraucher bezahlen. Wie wollen Sie das ändern?

Der Irrglaube besteht doch darin, dass bei einer Provisionsvermittlung die Beratung kostenlos sein soll. Erst wenn der Verbraucher in Euro und Cent sieht, in welcher Höhe Provisionen beim Vermittler landen, kann er wirklich darüber nachdenken, ob eine Honorarberatung nicht doch wirtschaftlich sinnvoller wäre. Außerdem muss jeder Anbieter all seine Produkte ohne Provision als "Berater-Tarif" anbieten.

Zum Abschluss bitte noch ein einfacher Tipp für Finanzentscheidungen.

Kaufen Sie nur das, was Sie verstehen – im Zweifel vorher von einer Verbraucherzentrale erklären lassen.

Info Gerd Billen
Gerd Billen (geboren 1955) ist seit August 2007 Vorsitzender des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen (vzbv) in Berlin.

Billen studierte von 1979 bis 1984 Sozial-, Ernährungs- sowie Haushaltswissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Danach arbeitete er als freier Journalist. Von 1993 bis 2005 war Gerd Billen Bundesgeschäftsführer des Naturschutzbundes Deutschland NABU e. V. Lange Jahre war er Mitglied und Vorsitzender der Jury Umweltzeichen. Vom Naturschutzbund wechselte er 2005 in die Otto Group als Leiter des Bereiches Umwelt- und Gesellschaftspolitik. Gerd Billen ist zudem als Verwaltungsrat der Stiftung Warentest tätig.

Quelle: Wikipedia