Die „andere Welt der Demenz“ in der Pflege

Um mit Demenz umzugehen, muss man den Begriff unserer Realität neu überdenken. Was ist eigentlich "unsere Welt"? Die Realität, die wir kennen, ist unsere Welt: Eine Zusammensetzung von "Kategorien". Das Endprodukt dieser Zusammensetzung hat einen Namen. Namen sind allgemeingültig, deshalb verstehen wir uns. Nicht so bei Demenz.

Die "andere Welt der Demenz" in der Pflege
Die Tischplatte ist stabil und glatt und in Bauchhöhe, also muss es ein Tisch sein. Wir nehmen wahr, bilden eine Informationskette, setzen sie zusammen und benennen sie: Tisch. Das ist unsere Welt, unsere Realität. Kann ein Mensch mit Demenz dies noch so tun? Wie sieht "die Welt der Demenz" denn aus?

In der Demenzbetreuung ahnen wir irgendwann, dass für die Person, die an Alzheimer erkrankt ist, Namen keine Bedeutung mehr haben. Da sie aber mit uns kommunizieren wollen, suchen sie Bezeichnungen. Und wir suchen ebenfalls eine Art, uns ihnen verständlich zu machen: "Frau Schmidt, stellen Sie das Glas auf den Tisch!"

Die übermalte Welt des Alzheimer
Eines Tages malte ich mit einem Mann, der aufgrund seiner Alzheimer Erkrankung erst vor ein paar Tagen in das Seniorenheim gekommen war. Er hatte noch nicht aufgegeben, nach seinem zu Hause zu fragen. Er bemühte sich sehr, beim Malen nach unseren Regeln zu funktionieren. Also suchte er sich die "richtigen" Farben aus, malte Finger, Ring und Haare. Er entsprach völlig "unserer Welt" und war dabei angestrengt, aber zufrieden.

Ich konnte mehrere Tage lang eine Kontinuität erkennen. Besonders den Zeitraum, in welchem dieser Mann "funktionierte", wurde für mich einschätzbar. Denn nach ca. 8 min verwandelte sich seine Art zu malen immer in etwas für mich Unverständliches, auf das er dann so sehr beharrte, dass ich mich ihm schwerlich entziehen konnte.

Frau Schmidt weiß aber nicht was "Glas" ist und was "Tisch" ist. Sie teilt nicht die Allgemeingültigkeit unserer Bezeichnungen. Frau Schmidt ist damit beschäftigt, den Tisch zu ertasten und etwas mit dem Glas tun. Aber was?

Wir müssen aufgeben, dass der Mensch mit Demenz die Welt versteht. Er wird nicht mehr lernen, dass der Tisch ein Tisch ist. Es hat für ihn keine Bedeutung. Wir müssen ihn jedoch pflegen und für ihn da sein. Wir benötigen eine Kommunikation. Ohne einen Dialog geht es dem Menschen mit Demenz nicht gut. Für den Pflegenden auf die Dauer ach nicht. Wir brauchen eine Verlagerung in der Kommunikation.

Die lückenhafte Welt der Demenz
Die Unberechenbarkeit dieser namelosen Welt führt zu vielen Missverständnissen. Der Demenzkranke kann uns nicht erklären, was für ihn seine Welt und seine Realität ist. Seine brockenhafte, lückenhafte Welt als seine Realität zu bezeichnen, obwohl das Namenlose für uns keine Realität ist, bereitet uns Schwierigkeiten und sorgt nicht gerade für Verständnis für die Situation in der Pflege.

Da die Anzahl Personen, die an Demenz erkranken, stetig steigt und jetzt schon überwältigend ist, können wir uns nicht davon abwenden. Die Anfangsstadien der Demenz und der Prozess stellt uns vor große Kommunikationsschwierigkeiten.

Menschen mit Demenz verlieren nicht nur die Bezeichnungen für manche Dinge, sondern sie verwechseln Gegenwart und Vergangenheit, machen falsche Rückschlüsse und halten sich krampfhaft an dem fest, was sie noch haben, auch wenn es uns schon seltsam unvollständig erscheint. Wir können kaum nachvollziehen, welche Komplexität sie bereits verloren haben und in welcher Welt sie leben. Was ist die eigene Realität und die der Person, die an Demenz erkrankt ist?

Genau wie im Gespräch, führte er mich quasi an den Rand der Verzweiflung mit seiner Beharrlichkeit über seine Realität. Der Mann malte bizarr mit einer Verbohrtheit, der er sich nicht und ich mich kaum entziehen konnte. Wie der Verlauf im Bildlichen wurde auch unser verbaler Dialog anstrengend, unbefriedigend, und realitätsfremd.

Mitsamt der differenzierten Teile des Bildes, übermalte er alles zwanghaft und ließ sich nicht bremsen oder von etwas anderem überzeugen. Dadurch wurde alles, was er vorher ausgemalt hatte, zu einer einzigen großen Fläche und alle Konturen verschwanden im Nichts.

Beim Malen mit an Demenz erkrankten Menschen ist dies im Prinzip kein Problem, da das Bild so werden darf, wie es will. Am bildlichen Prozess fällt es uns leichter zu verstehen, dass Realität so relativ ist und oft keine Bedeutung im Dialog hat. Ich "erlaubte" dem Mann so zu handeln, wie es seiner Realität entsprach und konnte loslassen, mich weniger anstrengen, ja sogar ganz entspannt beim Malen zuschauen, und bei ihm bleiben.

Das war der entscheidende Moment! Er entspannte sich ebenfalls. Plötzlich schaute er mir direkt in die Augen und sagte mit erstaunlicher Bewusstheit: "Sehen Sie, das passiert mir immer nach einer kurzen Zeit. Es geht mit mir durch und ich mache nur Blödsinn, an den ich mich später nicht erinnere."

Nicht die beharrliche Konversation hat zu diesem ehrlichen Ausruf geführt, sondern Entspannung. Dass der Mann eine Einsicht über sich selbst hatte, ist sehr interessant für alle, die meinen, ein an Demenz erkrankter Mensch merke nicht, dass er krank ist.

Der Dialog ist unheimlich wichtig für Demenzkranke wie auch für die Pflegenden. Wir wissen, dass sich etwas ändern muss und kommen doch erst spät zu einem Entschluss. Plötzlich und aus heiterem Himmel wird uns in der Pflege oder Demenzbetreuung klar, ich muss nicht die Realität ändern, sondern mich selbst.

Wir glauben was wir sehen, das ist unsere Welt
Was wir glauben ist was wir sehen. Was die Person, die an Alzheimer erkrankt ist glaubt, ist oft völlig konträr zu dem was wir sehen. Wir müssen einfach verstehen, dass unsere Sicht auf die Realität eine ganz andere ist, als die des Demenzkranken. Wenn er gerade viel gegessen hat, ist unsere Realität, dass er gegessen hat. Die Realität des Demenzkranken ist weiter "Hunger". Das kann auch den ganzen Tag, tagelang, wochenlang, monatelang so gehen.

Sie versuchen, ihm zu erklären, er habe gerade gegessen. Er erklärt ihnen, das stimmt nicht. Was möchten Sie nun erreichen? Inwiefern müssen Sie sich verändern, um den Dialog mit dem demenzkranken Menschen weiter zu führen, um Würde, Wertschätzung und Zufriedenheit zu erhalten?

Sie können ihn nicht glauben machen, was Sie sehen. Und Sie können auch nicht an das glauben, was er sieht. Sie zweifeln sogar daran, ob er überhaupt etwas sieht. Er sieht vielleicht, aber er übermalt es trotzdem und es entsteht etwas Namenloses.

Fragen Sie sich selbst, was Sie fühlen, wenn Sie dies und jenes mit einem demenzkranken Menschen erleben? Was tun Sie? Korrigieren Sie ihn? Belehren Sie ihn? Verbessern Sie, bevormunden Sie, kontrollieren Sie ihn? Wenn Sie das tun, versuchen sie ihm Ihre Realität aufzuzwingen. Sie vergeuden Ihre Kraft und Energie!

Es liegt bei Ihnen, wie geduldig, großmütig und entspannt sie im Angesicht der Demenz bleiben und lernen für sich selbst zu sorgen und Ihre Welt zu erleben, ohne sie einem Menschen mit Demenz aufzuzwingen.

Ich weiß, wie schwierig das ist. Ich denke, es ist wichtig darüber nachzudenken, darüber zu reden und sich weiter zu entwickeln. Ich glaube, wir haben eine Chance, auch wenn es sehr schwierig ist. Wenn wir uns erst einmal entschieden haben, dann können wir sogar auch unser Verhalten ändern. Wir sind auf dem Weg, auf der Suche nach einem Umgang mit Demenz.

Buchtipp:

  • Claudia Büeler: Gesichter von demenzkranken Menschen: Ein kunsttherapeutisches Projekt für Alten- und Pflegeheime