Warum gesunde Ernährung zum inneren Zwang werden kann

Eine Abnehmdiät und Lebensmittelskandale bereiten schnell den Weg in die krank machende Sucht nach unbedenklicher Ernährung. Denn den teils berechtigten Ermahnungen zur gesunden Ernährung begegnen wir heute fast an jeder Ecke. Doch sie haben eine Kehrseite. Denn eine neue Essstörung greift um sich: der Zwang zur gesunden Ernährung (med.: Orthorexia nervosa), der letztlich zu einer radikalen Einschränkung der Nahrungsaufnahme und damit zu schweren Gesundheitsstörungen führen kann. Lesen Sie, wie diese Störung entsteht und woran Sie erkennen, ob Sie selbst oder Angehörige gefährdet sind.

Süchtig nach gesunder Ernährung? Der Speisezettel wird immer kürzer
Der Begriffder Orthorexie (griech.: gute Ernährung) wurde im Jahr 1997 von dem US-Arzt Dr. Steve Bratman geprägt. Orthorektiker wählen ihre Ernährung streng danach aus, ob sie „gesund" ist.

So steigert sich der Zwang zur gesunden Ernährung:

  1. Ernährungsumstellung auf immer mehr Obst und Gemüse.
  2. Kauf von Produkten nur aus biologisch-dynamischem Anbau.
  3. Einkauf ausschließlich in einem bestimmten Bioladen.
  4. Früchte dürfen vor nicht mehr als 1 Stunde geerntet worden sein.
  5. Radikaler Verzicht auf Zucker und Süßigkeiten.
  6. Ablehnung aller konventionell hergestellten Lebensmittel.
  7. Verzehr nur noch von selbst zubereiteten Nahrungsmitteln.
  8. Mitnahme von Notfallrationen ins Büro und zu Einladungen.

Schließlich essen die Betroffenen lieber gar nichts, als „ungesunde" Lebensmittel zu verzehren. Für jeden vermeintlichen Fehltritt bestrafen sie sich durch noch rigidere Regeln. Dieser Gesundheitswahn macht einsam und krank. Durch ihre Orthorexie vereinsamen viele Betroffene, weil sie ständig Freunde und Bekannte mit ihren Ernährungsvorstellungen „missionieren". Schließlich werden die Erkrankten kaum noch eingeladen, und wer kann, meidet Gespräche mit ihnen.

Außerdem droht Krankheit
Wer seine Ernährung dauerhaft auf rohes Obst, Gemüse und Frischkornmüsli beschränkt, muss mit einem massiven Mangel an B-Vitaminen, Kalzium, Magnesium, Eisen, Selen und Zink sowie Eiweiß und Fett rechnen. Im Extremfall führt das zu schweren Schwächezuständen! Zudem kann Orthorexie zu Magersucht (Anorexie) führen oder auch in eine Ess-Brech-Sucht (Bulimie) münden, sofern die Erkrankten sich durch Erbrechen von unerwünschten Lebensmitteln befreien.

Die Essstörung maskiert oft eine allgemeine Unsicherheit
Abnehmdiäten und Lebensmittelskandale stehen oft am Beginn einer betont gesunden Ernährung. Wird das gesunde Essen jedoch zum Zwang, spricht das für tiefer liegende Ursachen in der Persönlichkeit der Betroffenen. Prof. Dr. Lorenzo Donini vom Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Rom hat festgestellt, dass es oft unsichere, ängstliche oder zwanghafte Menschen trifft.

Für sie wird die Flucht in die Ideologie der gesunden Ernährung zum Schutz vor Lebensängsten. Zudem befriedigt die Krankheit das Verlangen der Betroffenen nach Kontrolle über sich und ihr Leben. Dahinter stehen oft ein geringes Selbstwertgefühl und Unsicherheit im Umgang mit anderen.

In diesem Fall empfehlen wir den Betroffenen eine Psychotherapie. Selbst in höherem Alter können durch das vertrauensvolle Zusammenarbeiten mit einem Therapeuten Ängste überwunden und wieder Freude am Essen, ja am ganzen Leben gewonnen werden.