Lerngeschichten liegen voll im Trend

Vielleicht haben Sie schon davon gehört: Bildungs- und Lerngeschichten – ein Trend aus Neuseeland, den schon viele deutsche Kindergärten erprobt haben und nun begeistert mitmachen. Aber was verbirgt sich hinter den Lerngeschichten? Mehr als nur ein Trend? Möglicherweise die Zukunft unserer pädagogischen Arbeit? Lesen Sie, was hinter den Lerngeschichten steckt, und finden Sie für sich heraus, ob dies auch ein Weg für Ihre Einrichtung sein könnte.

Hintergrund und Entstehung der Lerngeschichten
Zwischen 1991 und 1996 wurde in Neuseeland ein Nationales Curriculum entwickelt. Dies war die Folge davon, dass Neuseeland 1986 als erstes Land der Welt die Zuständigkeit für alle Kindertageseinrichtungen dem Bildungssystem zuordnete. So wurden dann in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Wissenschaftlerinnen Margaret Carr und Helen May mit der Aufgabe betraut, ein Nationales Curriculum zu entwickeln. Entstanden sind dabei die „learning stories" – Lerngeschichten. Seither werden Lerngeschichten in Neuseeland erfolgreich eingesetzt.

Lerngeschichten in Deutschland
Nach der PISA-Studie wurde auch in Deutschland eine hitzige Debatte um die Zukunft der Frühpädagogik wiederbelebt. Dabei wurden auch die Lerngeschichten unter die Lupe genommen, und schließlich startete das Deutsche Jugendinstitut (DJI) im Februar 2004 ein Projekt zur Umsetzung der „learning stories" in Deutschland. Beteiligt waren neben verschiedensten Wissenschaftlern aus ganz Deutschland und geschulten Multiplikatoren auch zahlreiche Projektkindergärten, die die Umsetzbarkeit der Lerngeschichten in die Praxis überprüften.

Nach 3 Jahren Projektzeit entstanden aus den neuseeländischen „learning stories" die „Bildungs- und Lerngeschichten" (BuL) für Deutschland. Übernommen wurden aus dem neuseeländischen Ansatz das Konzept der „Lerndispositionen" und die Idee, das Lernen der Kinder in Form von Lerngeschichten zu dokumentieren. Nun liegt es an den Erzieherinnen in Deutschland, ob und inwieweit sie diese Form der Arbeit für sich ausprobieren und übernehmen möchten.

Die 5 Lerndispositionen – der Kern der Bildungs- und Lerngeschichten
Als Lerndispositionen werden von Margaret Carr die Lernstrategien und Motivationen bezeichnet, mit deren Hilfe ein Mensch Lerngelegenheiten wahrnimmt und sie nutzt. Das Konzept der Lerndispositionen bildet die Grundlage für den Einsatz von Lerngeschichten. Ausgehend von Beobachtungen bei Kindern wurden fünf Lerndispositionen definiert:

Lerngeschichten – 1. Lerndisposition: Interessiert sein
Unter „Interessiert sein" wird verstanden, dass das Kind Interesse an etwas zeigt, sich Dingen oder Personen zuwendet, aufmerksam wird und sich damit auseinandersetzt. Beispiel: Jana schaut zu den Kindern am Maltisch. Diese stempeln schon seit einiger Zeit eifrig Blumen und unterhalten sich dabei lebhaft. Jana beobachtet die Kindergruppe einige Minuten lang, dann geht sie zu den Kindern, um noch genauer sehen zu können, was diese machen.

Lerngeschichten – 2. Lerndisposition: Engagiert sein
Mit „Engagiert sein" ist gemeint, dass das Kind bereit und in der Lage ist, sich auf etwas einzulassen. Engagement herrscht dann, wenn Kinder sich einige Zeit vertieft mit etwas befassen und zum Teil auch damit identifizieren. Beispiel: Die Bauarbeiter graben heute im Garten des Kindergartens ein großes Loch. Tim hat dies schon eine Weile beobachtet. Nun holt er sich ebenfalls eine Schaufel, stellt sich in die Nähe der Arbeiter und beginnt, gemeinsam mit ihnen zu schaufeln. Als die Bauarbeiter eine Pause machen, legt auch er seine Schaufel weg und geht in den Kindergarten, um sein Brot zu essen.

Lerngeschichten – 3. Lerndisposition: Standhalten bei Schwierigkeiten
„Standhalten" meint, dass ein Kind auch dann seine Tätigkeit weiterführt, wenn es dabei auf Schwierigkeiten stößt. Es sucht nun nach dem Fehler sowie Wegen und Lösungsmöglichkeiten, um weiterarbeiten zu können. Beispiel: Lara möchte eine Kordel drehen. Sie sucht sich die benötigte Wolle zusammen und schneidet sie ab. Beim Zusammenlegen bemerkt sie, dass eine Schnur deutlich zu kurz ist. Sie entfernt diese und schneidet eine neue ab. Diese ist nun etwas zu lang. Kurzerhand nimmt sie eine Schere und schneidet alle 3 Fäden auf die gleiche Länge zurecht. Als sie beim Zusammenknoten Schwierigkeiten bekommt, bittet sie eine Erzieherin um Hilfe.

Lerngeschichten – 4. Lerndisposition: Sich ausdrücken und mitteilen
„Sich ausdrücken und mitteilen" bedeutet, dass Kinder sich untereinander mitteilen, ihre Ideen, Wünsche, Gefühle und Interessen kommunizieren. Beispiel: Fabian sitzt seit einigen Minuten vor einem aufgebauten Spiel am Tisch. Durch seine ganze Körperhaltung und Gestik drückt er aus: „Mir ist langweilig, keiner spielt mit mir." Genervt lässt er immer wieder den Würfel auf den Tisch fallen. Dies hört Annika und wendet sich ihm zu. Sie sieht Fabian, geht auf ihn zu und fragt, was denn los sei. Als Fabian erklärt, dass niemand mit ihm spielen möchte, erklärt sich Annika bereit, mit ihm zu spielen.

Lerngeschichten – 5. Lerndisposition: Lerngemeinschaften
Diese Lerndisposition umfasst die Fähigkeit von Kindern, Dinge auch von einem anderen Standpunkt aus zu sehen. Außerdem muss ein Kind dazu in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen und Auskunft über sich oder etwas zu geben, d.h. innerhalb einer Lerngemeinschaft zu kommunizieren. Beispiel: 4 Mädchen möchten Hüpfgummi spielen. Sie besprechen untereinander, wer das Gummi festhält und wer danach an der Reihe ist.

Lerngeschichten formulieren
Nach dieser Auswertung, die selbstverständlich auch Vermutungen enthalten darf, wird weiter überlegt, um eine Lerngeschichte zu entwickeln: Was kann ich dem Kind weiterführend anbieten, um zum einen seine Interessen aufzugreifen und zum anderen ihm die Möglichkeit eines weiteren Wissenserwerbs zu bieten? Gibt es zudem auch andere Kinder, die ähnliche Interessen haben? Könnte daraus eine Lerngemeinschaft oder sogar ein Projekt entstehen? All diese Beobachtungen, Überlegungen und Ideen bilden nun die Grundlage für eine Lerngeschichte. Diese schreibt eine Erzieherin in Briefform an das Kind persönlich. Beispielsweise so:

 

„Lieber Tim, neulich habe ich dich beobachtet, als du den Bauarbeitern in unserem Garten zugesehen hast … Dies scheint dir so gut gefallen zu haben, dass du selbst zur Schaufel gegriffen hast … Vermutlich wolltest du auch ein Bauarbeiter sein und hast dies auch sehr gut nachgeahmt … Ich habe gestaunt, wie gut es dir gelang, die feste Erde mit deiner Schaufel aus dem Boden zu heben … Kann es sein, dass du dich sehr für Bauarbeiten interessierst? … Magst du mir mehr darüber erzählen … ?"

 

Mit diesen gesammelten Erfahrungen kann auf Grundlage der Lerngeschichten die weitere pädagogische Arbeit mit dem Kind und / oder der Gruppe geplant werden.