Simultan-Gesellschaft: Die neuen Märkte des Multitaskings

Während Kulturtheoretiker bislang davon ausgingen, dass die Zeit immer schneller vergeht, mehren sich jetzt die Anzeichen einer Verlangsamung. Denn im gleichen Maße, in dem die Komplexität des Alltags steigt, erhöht sich die Fähigkeit der Menschen, viele Dinge parallel zu erledigen – und damit an anderer Stelle Zeit zu gewinnen.
Die Simultan Gesellschaft ist geboren und mit ihr ein neuer Markt für Produkte, die das Multitasking vereinfachen. Bislang galt als sicher: Die Menschen leiden unter der ständigen Beschleunigung unserer Kultur. Eine Allensbach-Umfrage im Auftrag der Körber Stiftung jedoch beweist, dass nur noch 25 Prozent der Deutschen meinen, die Zeit verginge "rasend" (1975: 30 %): Und nur 7 Prozent wünschten, alles möge "sehr viel langsamer gehen" (1975: 16%; zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09. Juni 2002). Parallel dazu lässt die zeitbedingte Stressbelastung nach:

Zwar sind sich 81 Prozent der Bundesbürger sicher, dass die meisten Menschen genau darunter leiden, doch nur ein Drittel gibt an, derzeit selbst gestresst zu sein. Selbst im Osten Deutschlands, wo der Zusammenhang zwischen Zeit und Stress erst seit der Wiedervereinigung beobachtet wird, hat sich die Zahl derer, denen alles viel zu schnell geht, von 1995 bis 2002 von 28 auf 21 Prozent verringert (FAZ, ebd.). Und ganze 70 Prozent der Deutschen stimmen der Aussage zu, dass es auch anregenden, positiven Stress geben kann, so der Allensbacher Bericht No. 10/02. Was aber hat diesen Wertewandel ausgelöst?

Unbestritten ist, dass die Anforderungen an den Einzelnen sich nicht verringert, sondern im Gegenteil erhöht haben; dass seine Eigenverantwortung wächst, und der Konkurrenzdruck auf den Lebens- und Liebesmärkten steigt. Doch anscheinend haben sich mehr Menschen in der jüngsten Vergangenheit an das hohe Tempo angepasst und vor allem ihre Begabung für das Multitasking entdeckt. Ursprünglich ein Begriff aus der Computertechnik, meint Multitasking heute allgemein die Fähigkeit zum Simultan-Agieren. Wer Zeit sparen will, trinkt den Kaffee auf dem Weg zur U-Bahn, verfolgt die Nachrichten auf dem Ergometer im Fitness-Studio und telefoniert beim Fernsehen. Und was die Anhänger einer entschleunigten Kultur zum Erschaudern bringt, ist vor allem für jüngere Menschen längst selbstverständlich geworden. Unabhängig von allen Bewertungen dieser Entwicklung gilt es aber in jedem Fall zu konstatieren: Die "Simultanten" sind unter uns, und sie definieren einen neuen Markt für Produkte, die dem schnellen und parallelen Lebensstil entsprechen.
Hier die wichtigsten Beispiele:
Parallel-Medien
– Das Fernsehen ist nicht nur die beliebteste Freizeitbeschäftigung überhaupt, sondern auch der Klassiker der Simultan-Nutzung: Jeweils 24 % der Deutschen essen oder unterhalten sich vor dem Gerät, 18 % lesen, 17% telefonieren und 8 % schlafen sogar, das hat eine Umfrage im Auftrag des Instituts der Deutschen Wirtschaft im letzten Jahr ergeben (Näheres unter: iwkoeln.de). Weniger als die Hälfte aller Zuschauer konzentrieren sich voll auf das TV, bestätigt die BAT.de Medienanalyse 2002 – Fernsehen ist wie Radio zu einem Nebenbei-Medium geworden.
– Auch während des Surfens im Internet läuft heute häufig der Fernseher, nämlich bei 29 % aller User. Wer in seiner Freizeit surft, tut dies zu 60 Prozent nicht ausschließlich; neben dem TV-Gerät beschäftigen sich die Webnutzer parallel mit Musik-CDs, dem Radio, Essen oder Getränken, so die Redakteure der "w&v", 6/03.
– Und die Entwicklung wird sich weiter verstärken: So träumen in der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen heute schon 69 % von einem Simultan Wundergerät, dass Telefon, TV, PC, Internet und E-Mail vereint. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind es noch 51 %, bei den 30- bis 39-Jährigen immerhin noch 31 %, so die Verantwortlichen am Freizeit-Forschungsinstitut.
Food on-the-run
– Auch die Nahrungsaufnahme ist eine klassische Simultantätigkeit.
Immer weniger Menschen essen zu festen Zeiten zu Hause an ihrem Esstisch, immer mehr stillen den Hunger unterwegs oder parallel zu anderen Tätigkeiten. Allein zwischen 2000 und 2001 ist der Umsatz im Außer-Haus-Verzehr-Bereich um 8 Prozent gestiegen. Bis zum Jahr 2010 soll jeder zweite Euro bei Speisen und Getränken in diesem Segment landen, so die Verantwortlichen der CMA-Zentrale (zitiert nach: Handelsblatt, 24.06.02).
– Und das fängt schon früh an: Ein Viertel der Deutschen frühstückt heute nicht mehr zu Hause, das melden die Forscher der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle, Bonn. Die Simultanten freuen sich zum Beispiel über die neuen Kelloggs-Ceralien in Riegelform in den Sorten Smacks, Choco Krispies und Frosties – die Milch ist gleich dabei. Und auch Hohes C und den Joghurt Exprèsse von Yoplait gibt es im praktischen Riegel für unterwegs.
Bildung im Vorbeigehen
– 80 Prozent aller Deutschen sind dazu bereit, während der Freizeit für den Job weiterzulernen, meldeten die Marktforscher von Emnid im letzten Jahr. Nur wann? Zum Beispiel im Urlaub – dachten sich die Verantwortlichen der Carl Duisberg Centren und starteten ein Travelling Classroom-Programm. Die Teilnehmer lernen im Vorbeigehen: Der Busfahrer erteilt Sprachunterricht, der Reiseleiter erklärt in der Fremdsprache, der Lehrplan orientiert sich an der Umgebung.
– Und der Tiroler Management-Trainer Stefan Schranz macht endlich Schluss mit vertaner Zeit Reisen: Er bietet persönliche Workshops für unterwegs – auf Flügen, im Auto oder in der Bahn. Dazu bucht er den Platz neben seinem Kunden und führt das Seminar über die Sitzlehne hinweg durch.