Es werde Zeit, so behauptete der Erziehungswissenschaftler und FU-Präsident Dieter Lenzen Anfang August 2009 im Berliner "Tagesspiegel", dass "Internatserziehung mit anderen Augen betrachtet" werde. Denn das "Konzept privater Internate" habe nun auch in Deutschland "an Bedeutung gewonnen". Da ist man neugierig zu erfahren, welcher veränderte Blickwinkel nach Ansicht des Gelehrten denn nun der falsche war, respektive der richtige gewesen wäre.
Internate – auf dem Weg zur Sonderschule?
Eigentlich… uneigentlich… Objektiv wahrnehmbar ist zunächst einmal nur, dass insbesondere private Internatsschulen der gehobenen Preiskategorie sich immer stärker in Richtung sonderpädagogischer und sozialtherapeutischer Einrichtungen bewegen. In einigen der Mitgliedsinstitute der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime (LEH), zu denen auch "Elite-Internate" wie Schloss Salem,
Schloss Neubeuern oder Louisenlund gehören, zahlen inzwischen Jugendämter die Internatsgebühren für bis zu zwei Drittel der Insassen.
Eine schlüssige Antwort gibt Lenzen allerdings nicht. Seine These, dass der behauptete Bedeutungszuwachs des Internats auf das "Scheitern des staatlichen Schulwesens“ zurückzuführen sei, wirft eher kritische Fragen auf. Woran wird das Scheitern des öffentlichen Schulwesens gemessen? Die Schulzufriedenheit der Eltern steht und fällt bekanntlich mit dem Erfolg ihrer Kinder in der jeweils besuchten Lehranstalt. Für gescheitert halten das öffentliche Bildungssystem also vor allem diejenigen, deren Kinder dort gescheitert sind oder zu scheitern drohen.
Dass die Zahl der dort Scheiternden wächst, mag tatsächlich so sein. Aber ist es wirklich die "Staatsschule", die sie scheitern lässt? Scheitert nicht umgekehrt die Schule an denen, die – intellektuell überfordert, sozial depraviert oder wohlstandsverwahrlost – den Anforderungen des normalen Schulbetriebs nicht mehr gewachsen sind? Wer sich einen realistischen Eindruck von der heutigen Situation verschaffen will, sei auf die Dokumentation "Klassenkampf" des Bayrischen Fernsehens über die Abschlussklasse einer Münchner Hauptschule (letzter Sendetermin 12.02.2011) verwiesen.
Doch die Problematik hat mittlerweile sämtliche Schulformen erfasst. "Längst sind es nicht mehr nur Hauptschullehrer, die ihren Schülern einfachste Verhaltensregeln beibringen müssen, sondern auch Studienräte an Gymnasien", hieß es bereits vor Jahren in einem Bericht der Illustrierten "stern" über die Arbeitsbedingungen von Pädagogen öffentlicher Schulen in Deutschland (vgl. "Höllenjob auf Lebenszeit", erschienen am 18. Mai 2004). "Bei 30 Schülern in der Klasse2, wird ein Schulleiter zitiert, "hat man inzwischen vier oder fünf mit Verhaltensauffälligkeiten oder Aggressionen".
Wenn nichts mehr hilft, hilft Internat
Und in den privaten Internatsschulen? Hier sammeln sich von je her alle diejenigen, die in öffentlichen Schulen untragbar geworden sind, oft genug aufgrund des "Erziehungsscheiterns" ihrer Eltern, wie es Pädagogik-Professor Lenzen wortschöpferisch feststellt. Aber wo ist hier der neue Blickwinkel? Dass eine wachsende Zahl von Problemfällen zu höheren Anmeldezahlen bei den Internaten führt, klingt doch eher nach einer Binsenweisheit.
Viel interessanter wäre die Frage, ob private Internatsschulen überhaupt einen "pädagogischen Mehrwert" bieten, um – wie ihre Kundschaft es schließlich erwartet – trotz einer erheblich schlechteren Schülerauswahl erfolgreicher zu arbeiten als die viel geschmähte öffentliche Tagesschule? Lenzens Antwort hierauf ist merkwürdig vage und verschwurbelt: "Campusschulen mit einer Lebensgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden", da ist sich der Erziehungswissenschaftler ganz sicher, "rücken die Bildung in die Mitte des ganzen Lebens und überwinden die Trennung des jungen Lebens in zwei Teile: in das Eigentliche der Familie mit dem Fokus auf Erziehung und das fremde, uneigentliche Leben der Schule, in dem nichts weiter getan wird, als zu lernen."
Manche der Privatinstitute, einst reine Internatsgymnasien, eröffnen mittlerweile Realschulzweige oder gliedern dem „staatlich anerkannten“ Gymnasium noch ein „staatlich genehmigtes“ an, das sich nicht an die Aufnahme- und Versetzungsbestimmungen öffentlicher Schulen halten muss. So kann man auch diejenigen zu "Gymnasiasten" machen, die nur die Empfehlung für Haupt- oder Realschule erhalten haben beziehungsweise aufgrund wiederholter Nichtversetzung das Gymnasium verlassen mussten.
Immer größer wird zudem die Zahl der privaten Schülerhotels, die sich gezwungen sehen, innerhalb der Regelschule förderschulähnliche Lernbedingungen herzustellen. Die werbeträchtigen "kleinen Klassen" scheinen nicht mehr auszureichen. Dem Lehrer wird zum Teil noch ein Sozial- oder Heilpädagoge als „zweiter Mann“ zur Seite gestellt, damit der Unterricht nicht vollends aus dem Ruder läuft.
Andere Institute wie etwa das als Vorzeige-Internat geltende Schloss Salem am Bodensee, erfinden Sonder-Arrangements zur "Entschleunigung" des Turbo-Abiturs in G8. "Das Salemer Auslandsjahr", so lockt die Webseite des Instituts mit falscher Interpunktion, "ist ein in Salem entwickeltes, Konzept für eine qualifizierte Vorbereitung auf die gymnasiale Oberstufe."
Der Sinn des Ganzen: "Schülerinnen und Schüler können nach der 10. Klasse für ein Jahr aus dem normalen Schulbetrieb aussteigen und in den USA für sieben Monate eine andere Lebens- und Lernkultur kennen lernen und sich in ihr bewähren. Anschließend besuchen sie für den Rest des Schuljahres die Schule Schloss Salem." Warum die eigene Lebens- und Lernkultur der Schule Schloss Salem einer qualifizierten Vorbereitung auf die gymnasiale Oberstufe weniger förderlich sei, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Erfolgreicher durch Sonderpädagogik?
Sonderpädagogische Strukturen und Maßnahmen führen in Einrichtungen der Erziehungshilfe oder Förderschulen mit Heim, wo sie ja schon seit vielen Jahrzehnten praktiziert werden, bekanntermaßen nicht zu bahnbrechenden Verbesserungen der pädagogischen Situation, sondern bestenfalls dazu, den "normalen Wahnsinn" irgendwie noch handhabbar zu machen.
Warum soll das nun ausgerechnet in privaten Internatsschulen, in der "Lebensgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden" (Lenzen), besser funktionieren? Als die letztgenannte Formulierung veröffentlicht wurde, war der Supergau des "annus horribilis" 2010, das Kabarettisten aus nahe liegenden Gründen gern auch mal mit nur einem "n" schreiben, gerade noch ein Schulhalbjahr entfernt. Inzwischen wird in den Internatsschulen eine Fülle präventiver Maßnahmen diskutiert, die die Entstehung solcher Lebensgemeinschaften auflösen oder unterbinden sollen.
Tatsache ist, dass sich das soziale Umfeld eines Eleven mit dem Wechsel ins private Internat in ähnlicher Weise verschlechtert wie beim Eintritt in eine Heimsonderschule für Erziehungshilfe, die Wohngruppe eines öffentlichen Jugendhilfeträgers oder gar die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Gar nicht zu reden von dem schulischen Anforderungsniveau, das zwangsläufig nach unten angepasst werden muss, wenn die Schülerschaft überwiegend aus Schulversagern besteht.
Harte Daten zu den Ergebnissen von Internatserziehung liegen nicht vor. Der Düsseldorfer Erziehungswissenschaftler Prof. Heiner Barz spricht in diesem Zusammenhang von einer "desaströsen Forschungslage", die der Legendenbildung Vorschub leiste. Dass ein höherer Aufwand für die Ausstattung von Schulen einschließlich kleinerer Klassen einen positiven Effekt auf die Schülerleistungen hätten, wird von dem Bildungsökonomen Ludger Wößmann nachdrücklich widerlegt.
Leistungsorientierte Stipendiaten sollen Internate aufwerten
Gern suchen Salem & Co. den imageschädigenden Eindruck einer Konzentration von Problemfällen zu vertuschen, indem sie Stipendien für besonders Begabte ausloben. Diese wundern sich dann oft, wie es ein Chat-Beitrag unter „schulradar.de“ ausdrückt, "über das erbärmliche intellektuelle Niveau" der Salemer Schülerelite "speziell in der Mittelstufe".
Die Versuche sozial exklusiver Internatsschulen, sich durch ihre Stipendienpolitik an die Förderung Hochbegabter und hoch Befähigter anzuhängen, weckt darüber hinaus zusätzlichen Argwohn : "Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren“, so der Bildungsforscher Prof. Klaus Jürgen Tillmann, „dass die neue Debatte über Elite und Exzellenz vor allem darauf ausgerichtet ist, soziale Separierung im Bildungssystem weiter zu befördern. Einer solchen Argumentation, die Begabtenförderung sagt, aber soziale Spreizung meint, sollten wir nicht auf den Leim gehen."
Die zwingende Notwendigkeit, Internatserziehung mit neuen Augen zu betrachten, will sich vor dem beschriebenen Hintergrund nicht recht erschließen. Hier handelt es sich wieder einmal um unreflektiertes Bashing des staatlichen Bildungswesens, verbunden mit kritiklosen Lobeshymnen auf die Angebote privater Internatsschulen. Derartige Äußerungen vermeintlich fachkompetenter Gewährspersonen, die jeweils eine Neue Sichtweise auf private Internatsschulen empfehlen und neue Trends zu Internatserziehung ausrufen, gehören zu den gewohnten Ritualen der Internatswerbung. Und ewig grüßt der PR-Journalismus.