Das Christentum und die Emanzipation der Gläubigen: Jesus

Das Christentum und die Emanzipation der Gläubigen spiegelt eine Geschichte der Befreiung des Gläubigen einerseits und der Spaltungen ihrer Institution Kirche andererseits. Jesus befreite die Menschen seiner Zeit von einem jüdischen Gott-Gläubigen-Verhältnis. Das jüdische Verhältnis zu Gott kann als Lohn-Verhältnis bezeichnet werden.

Dieses betonte die Allmacht Gottes und demonstrierte eine Abhängigkeit der Gläubigen von ihren eigenen Taten und dem Wohlwollen Gottes. Jesus machte in seinem Gott-Gläubigen-Verhältnis den Menschen nicht von den Taten, sondern von der Liebe der Gläubigen abhängig. Damit etablierte Jesus ein völlig neues Selbstverständnis der Gläubigen jener Zeit, welches das Empfangen des göttlichen Reiches in kindlich vertrauender Hingabe ermöglichte.

Das Christentum ermöglichte die Emanzipation der Gläubigen durch die Offenbarung Jesu
Der Offenbarung Jesu zufolge solle sich der Gläubige in einer Vater-Sohn-Beziehung sehen, deren Basis die gegenseitige Liebe darstellt. Hierdurch wurde durch Jesus das Verhältnis des Gläubigen zu Gott von der vormals einseitigen Ausrichtung beidseitig. Nicht ausschließlich die Allmacht Gottes bestimmte das Verhältnis eines Gläubigen zu Gott, sondern der Mensch hatte seinerseits ein liebevolles Verhältnis zu Gott.

Durch dieses Vater-Sohn-Verhältnis sollten sich die Gläubigen vertrauensvoll umsorgt wissen. Alle Alltags- und Lebenssorgen als Ausdruck des Misstrauens gegenüber Gott wurden durch das gewonnene Vertrauen unnötig. In diesem Vertrauen auf Gott wird der Gläubige frei von Sorgen und Ängsten und kann sich gänzlich dem liebevollen Verhältnis zu Gott zuwenden. Hierdurch wird der gläubige Mensch frei für sein alltägliches Leben und kann sich selbstbewusst seiner persönlichen Beziehung zu Gott widmen.

Das Christentum und mit ihm die Emanzipation der Gläubigen standen allen offen
Das neue Glaubensverständnis von Jesus bestand auch darin, dass er die Vater-Vorstellung nicht mehr ausschließlich auf das Volk Israel beschränkte. Er dehnte seine Vorstellung auf alle Menschen aus, wobei dies auch die Nicht-Juden, die Ungläubigen mit einschloss (Matth. 5, 44: "Liebet eure Feinde und betet für eure Verfolger, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid.").

Das Christentum und mit ihm die Emanzipation der Gläubigen drohten in der Vielfalt unter zu gehen
Für die ersten beiden Jahrhunderte nach dem Tod Jesu ist heute eine urchristliche Vielfalt nachweisbar, die lange verschwiegen wurde. Erst 1945 wurden Schriften, unter ihnen auch vorher unbekannte frühchristliche Evangelien, in Nag Hammadi gefundenen. Viele Jahre durften diese Schriften nicht wissenschaftlich untersucht werden. Diese Schriften belegen, dass das Urchristentum eine Religionsform mit breitem Vorstellungshorizont war.

Ein Grund für diese Vielfalt liegt vor allem in der Missionsarbeit der damaligen Zeit. Die Lehre Jesu wurde mündlich in unterschiedlichste Gebiete mit sehr verschiedenen Traditionen getragen. So waren bis gegen Ende des zweiten Jahrhunderts unterschiedliche Evangelien unter der Vielzahl christlicher Gruppierungen vorhanden.

Diese Evangelien reichten von den neutestamentarischen, wie Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, bis hin zu Schriften, wie z. B. dem gefundenen Thomasevangelium, dem Evangelium des Philippus und dem Evangelium der Wahrheit.

Neben diesen Evangelien existierten eine ganze Reihe anderer geheimer Lehren, Mythen oder Gedichte, die Jesus oder seinen Jüngern zugeschrieben wurden (vgl. Pagels, E.: Versuchung durch Erkenntnis – Die gnostischen Evangelien). Durch die dargelegte Variantenbildungen drohte sich das Urchristentum im Sektendasein zu verlieren (vgl. Stark W.: Grundriss der Religionssoziologie).