Brauchen wir Vorbilder?

In Zeiten der Krise wird der Ruf nach Vorbildern erfahrungsgemäß lauter. Ist dieser Ruf nach Leitbildern und vorbildlichen Führungskräften und Kollegen aber auch sinnvoll? Daran lässt sich zumindest aus lerntheoretischer Sicht eher zweifeln.

Die Diskussion um die Verantwortungsethik für Manager prägt die Führungslandschaft. Auch der mediale Ruf nach Leitbildern und Vorbildern wird immer vehementer. Aber nur die wenigsten Arbeitnehmer werden nach einer Untersuchung der Unternehmensberatung Accenture auch in ihrem eigenen Betrieb fündig – gerade mal jeder vierte Mann und nur jede fünfte Frau. Das scheint auf den ersten Blick ein beklagenswerter Zustand zu sein; ich persönlich sehe aber auch die positiven Effekte.

Vorbilder: Lernen am Modell in Kindheit und Jugend
Aus lerntheoretischer Sicht spielt das Modelllernen (Bandura) gerade in der frühen Kindheit und Jugend (Adoleszenz) eine wichtige Rolle. Kinder und junge Menschen lernen an Vorbildern, häufig sind die Eltern in ihrer Vorbildfunktion die ersten bedeutsamen Anderen. Aber auch Jugendliche kopieren Einstellungen und Verhalten ihrer Stars und Vorbilder.

Auch ich hatte als Kind meine Vorbilder: Albert Schweitzer und Uwe Seeler, deren Einstellungen und Verhalten ich imitierte. Der Arzt aus Lambarene und der treue HSV-Fußballstar waren einige Jahre uneingeschränkte Vorbilder. (Erst später kamen mir leichte Zweifel an dem Kolonismus-Stil Schweitzers).

Aber auch in dieser sehr frühen Entwicklungsphase ist die vollständige Identifikation mit einem Vorbild eher ungewöhnlich. Ein bestimmter Rollenausschnitt wird häufig auf das eigene Verhalten übertragen oder modifiziert. 

Naturgemäß wird dieses Modelllernen im zunehmenden Alter bedeutungsloser, weil ein vielfältiges Repertoire an Verhaltensweisen und Kompetenzen zur Verfügung steht, das es abzurufen gilt. 

Ein kritisches Reflexionsvermögen ersetzt die dogmatische Inanspruchnahme von Vorbildern
Gleichwohl möchte ich mit dieser Aussage die Suche nach Führungsleitsätzen und Vorbildern nicht abrupt beenden, aber sie doch relativieren. Diese Suche darf nicht autoritär geführt werden etwa in dem konservativen Sinne "Persönlichkeiten machen Geschichte". Auch eine Überhöhung moralischer Wertemuster kann durchaus eher kontraproduktiv werden.

Unternehmensentwicklung, Personalentwicklung und Führungsmodelle sind fortwährende Prozesse, deren Ziel auch das Anwachsen von reflexiver-personenunabhängiger-Kompetenz sein muss. Deshalb balanciert eine gute Personalentwicklung im Unternehmen das Terrain zwischen Fachausbildung und Persönlichkeitsentwicklung sorgsam aus. Mündige, innovative Mitarbeiter gehören zu den obersten Vorbildern im Betrieb.