Authentisch kommunizieren im Betrieb – geht das?

"Wir gehen offen und ehrlich miteinander um" ist ein Grundsatz der Corporate Identity und findet sich in den Führungsrichtlinien vieler Unternehmen wieder. Führungskräfte lernen in Kommunikationsseminaren, wie sie Mitarbeitergespräche führen sollen: mit Wertschätzung und Einfühlungsvermögen, dabei aktiv zuhören und Ich-Botschaften senden. Doch ist authentisches Kommunizieren im Betrieb überhaupt möglich?

Die Apologeten der humanistischen Psychologie haben den Begriff populär gemacht, allen voran der Begründer der Gesprächspsychotherapie, Carl Rogers. Er hat das christliche Weltbild übernommen. Die Nächstenliebe ist bei Rogers die Wertschätzung. „Du sollst nicht lügen“ entspricht der Offenheit in der puritanischen Tradition: Man hat nichts zu verbergen.

Authentizität als Masche

Der amerikanische Schriftsteller Saul Bellow schreibt in seinem Roman „Humboldts Vermächtnis“:

Als ich mir mein Geld damit verdiente, die persönlichen Erinnerungen von fremden Leuten zu schreiben, habe ich entdeckt, dass kein Amerikaner je einen richtigen Fehler begangen, niemand gesündigt oder nur eine einzige Sache zu verbergen hatte; Lügner gab es nicht. Die angewandte Methode ist Vertuschung durch Offenheit, um Doppelzüngigkeit in Ehren zu garantieren.

Die Fernsehmoderatorin Barbara Schöneberger hat in einem Gespräch mit dem Kabarettisten Pelzig – er war entzückt über ihre Offenheit und direkte Art zu kommunizieren – eingestanden, dass ihre Authentizität eine Masche sei, die gut bei ihrem Publikum ankomme.

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Kommunikation auf Augenhöhe?

Die Frage lautet: Ist es möglich, bei dem Machtgefälle Chef – Mitarbeiter offen zu sprechen? Ein Chef wird noch authentisch mit einer Ich-Botschaft sagen können: „Ich bin mit Ihren Leistungen nicht zufrieden.“ Doch wenn ein Mitarbeiter gegenüber seinem Chef äußert, dass er sich ungerecht behandelt fühlt und zutiefst enttäuscht ist, weil er bei der Beförderung wieder einmal übergangen worden ist, dann befindet er sich in einer sehr viel schlechteren Position.

Er wird sich deshalb vorher überlegen, ob er das so offen sagen kann, ohne Sanktionen zu befürchten. Wer besitzt schon die Autonomie eines Diogenes, den Mann in der Tonne, den der große Alexander gefragt haben soll: „Sag‘, was du begehrst, und der Wunsch sei dir erfüllt.“ Und Diogenes antwortete: „Geh‘ mir aus der Sonne!“ Oder denken wir an Alceste, der Menschenfeind, in Molieres gleichnamigen Theaterstück, der sagt: „Meine Schwäche besteht darin, dass ich offen spreche.“

Vorhang zu und alle Fragen offen?

Nein, Ruth Cohn, die Begründerin der „Themenzentrierten Interaktion“ (eine populäre Methode der Gruppenarbeit) zeigt uns einen praktischen Ausweg: Sie spricht von „selektiver Authentizität“ und sagt: „Nicht alles, was echt ist, will ich sagen, doch was ich sage, soll echt sein.“

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