Zeichnen lernen = Sehen lernen: Linke Gehirnhälfte versus rechte Gehirnhälfte

Im vorigen Artikel dieser Serie bat ich Sie, ein "Abrakadabra" zu lesen. Hier geht es ums Schauen und Sprechen. Dabei stehen Ihre linke und Ihre rechte Gehirnhälfte im Konflikt. Naturgetreu zeichnen zu lernen heißt hier und jetzt "Farbe bekennen!"

Sprechen Sie mal die sichtbaren Farben laut aus, z. B. "Schwarz" usw.

(Die geschriebenen (falschen) Farbnamen sind zu ignorieren.)

001 Farbnamen Farbempfindungen Gif

Es klappt nur mühsam. Obwohl die Farbflächen auffälliger sind, als die geschriebenen Farbnamen, spüren Sie einen unsichtbaren Widerstand. Sie müssen sich jedes Mal aus dem "Leseprogramm" lösen, sich der Farbe selbst bewusst werden. Dann erst können Sie den korrekten Farbnamen aussprechen.  

Sobald diese Umschaltung gelungen ist, geht es eine Weile flott weiter, bis Sie in den Lesemodus zurückfallen. Dann stolpern Sie und können den korrekten Farbnamen wieder nicht mehr aussprechen.

Es ist ein Entweder – Oder.

Linke und rechte Gehirnhälfte: Was ist da los?
Wir zitieren: "Die linke Gehirnhälfte ist Sitz des Sprachzentrums und denkt in verdichteten und abstrahierten Inhalten, also Begriffen, Worten und Zahlen. Rechnen ist z. B. eine typische Funktion der linken Gehirnhälfte.

Die rechte Gehirnhälfte dagegen denkt unmittelbar in sensorischen Inhalten, also beispielsweise in Bildern. Sie denkt ganzheitlich und intuitiv und ist Sitz der Phantasie. Zeichnen ist beispielsweise eine typische Domäne der rechten Gehirnhälfte.

Wichtig ist, dass außerhalb des Gehirns, also schon ab den Augen, die genannten Spezifikationen beim menschlichen Körper seitenverkehrt ablaufen. Also: Linke Gehirnhälfte steuert die rechte Körperhälfte und umgekehrt."

Angeborene/anerzogene Dominanz der linken Gehirnhälfte
Eben haben Sie die angeborene/anerzogene Dominanz Ihrer linken Gehirnhälfte erlebt, jener Gehirnhälfte, die Ihnen beim Lesen des "Abrakadabra" so genial hilfreich war.

Bei dem naturgetreuen Zeichnen ist diese Dominanz störend. Unser Auge bzw. unsere linke Gehirn sucht und sieht immer nur das, was aus der Erinnerung zu erwarten ist oder bekannt ist: Grundformen, Schemen. Unser Verstand analysiert, kombiniert, interpretiert das Unbekannte und reduziert es auf etwas Bekanntes. Dies geschieht in einem viel höheren Maße, als es uns bewusst ist. Unser Sehen ist nie wirklich "objektiv". Es ist immer vorgeprägt, subjektiv.

Wie schwer es ist, die eigenen Vor-Urteile zu überwinden, veranschaulichen Vexierbilder. Das, was unser Erinnerungsvermögen uns gleich zu Anfang zugeschoben hat, das sehen wir auch weiter. Der zweite Inhalt bleibt uns verborgen. Es kostet Mühe, den ersten Eindruck zu ignorieren, um etwas Neues zu entdecken.

P.S. Jeder Mensch ist auch mehr oder weniger "rechts" oder "links" veranlagt. Ein elegantes Testbeispiel finden Sie auf der Webseite Hornoxe. Dort sehen Sie die schwarze Silhouette einer unbekleideten Dame, die sich wie im Tanz dreht. Für die einen dreht sie sich im Uhrzeigersinn, für die anderen gegen den Uhrzeigersinn, je nachdem welche Gehirnhälfte im gegebenen Moment dominiert.

Als ich vor kurzem wieder mal hereinschaute, drehte sich die Dame zuerst nach rechts, dann aber nach links. Schließlich konnte ich "sehen", wie sie das Bein mal nach links, mal nach rechts hinüberschwenkt, hin- und her, hin- und her. Offensichtlich hat auch mein Bewusstsein mal der linken, mal der rechten Gehirnhälfte zugehört.

Dies alles hat zum naturgetreuen Zeichnen einen direkten Bezug.

Im nächsten Beitrag kommen wir der Sache noch ein bisschen näher.