Kindheitsforschung: Zurück in die eigene Kindheit

Die Welt, in der wir leben, ist eine von Erwachsenen gestaltete und bestimmte Welt. Forschungen über Kinder zeigen uns, wie wenig wir immer noch von Kindern und ihrer Fähigkeit, sich in der Welt zu orientieren, verstehen. Der Pädagoge Prof. Dr. Michael-Sebastian Honig spricht in seinem Buch "Individualisierung und Kindeswohl" von einem Zwiespalt zwischen der Angewiesenheit der Kinder auf Erwachsene, der Selbstständigkeit von Kindern und ihren Rechten als eigenständige Wesen.
Dieser Zwickmühle sind Sie in Ihrer pädagogischen Praxis ebenfalls ausgesetzt: Sollen Sie das Schutz- und Orientierungsbedürfnis der Kinder oder deren Bedürfnis nach Selbstständigkeit in den Mittelpunkt Ihrer Erziehung stellen?
Das Kind ist von Beginn an eine eigenständige Persönlichkeit
Die heutige Kindheitsforschung sieht das Kind als aktiv lernende Persönlichkeit. Diese wird nicht nur durch die Umwelt und angeborene Reifungsprozesse beeinflusst, sondern konstruiert sich von Beginn an ihre eigene Welt. Kinder werden somit vom 1. Lebenstag an als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft verstanden. Sie werden in ihrer Einmaligkeit ernst genommen. Ihre einzigartige Individualität muss gewahrt, geschützt und geachtet werden. Dies steht im Gegensatz zu der weit verbreiteten Haltung von Erwachsenen: "Ich weiß schon (besser als du selbst), wer du bist, was gut und richtig für dich ist und wie du dich verhalten sollst."
Das erzieherische Handeln orientiert sich an den Stärken der Kinder
Die oben beschriebene Sicht von Kindern setzt von Ihrer Seite eine erzieherische Haltung voraus, die zum Grundsatz hat: "Ich weiß nicht, wie du denkst, fühlst und handelst." Es ist eine Sichtweise, die an den Stärken und Ressourcen von Kindern und Jugendlichen ansetzt und die sie bestärkt, das eigene Leben selbst mitzugestalten. Um sich als eigenständige Individuen zu verstehen, die ihre eigene Lebenswelt mitbestimmen können, benötigen Kinder und Jugendliche Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten. Es ist Ihre Aufgabe, den Kindern diese Möglichkeiten bereitzustellen:
  • Erarbeiten Sie Projekte mit den Kindern und nicht für die Kinder.
  • Planen Sie die nächste Woche mit und nicht für die Kinder.
  • Führen Sie regelmäßig Kinderkonferenzen durch.
  • Gehen Sie auf Ideen und Vorschläge der Kinder ein.
Erziehung als ein Prozess der Kommunikation zwischen Ihnen und dem Kind
Bei den Kindern und Jugendlichen bisher noch verborgene Fähigkeiten zu entdecken und immer mit neuen Möglichkeiten zu rechnen, stellt hohe Anforderungen an Sie als Erzieherin. Von Ihnen werden gegensätzliche Verhaltensweisen gefordert wie:
  • Beobachten und Wahrnehmen
  • Handeln und Geschehenlassen
  • Festhalten und Loslassen
  • Bindung und Autonomie ermöglichen
Die Beziehung zwischen Ihnen und den Kindern und Jugendlichen ist in der modernen Kindheitsforschung keine hierarchische, sondern ein Prozess des gegenseitigen Austauschs zwischen 2 gleichwertigen Partnern. Wahrnehmung und Beobachtung sind Grundvoraussetzungen für eine solche pädagogische Haltung. Nur wenn Sie am Leben der Kinder teilhaben und ihre Individualität achten, können Sie ihnen den Freiraum einräumen, den sie für ihre individuelle Entwicklung benötigen. Eine solche Erziehungshaltung fordert viel von Ihnen, denn Sie müssen das Kind in die Selbstständigkeit entlassen, obwohl Sie um die Gefahren wissen, denen ein Kind ausgesetzt ist. Lassen Sie das Kind auf den hohen Baum klettern, auch wenn Sie befürchten, dass es herunterfallen könnte. Ihr Vertrauen in das eigenständige Handeln des Kindes schenkt dem Kind Vertrauen in das Leben und in seine eigenen Fähigkeiten. Dabei macht das Kind Erfahrungen von Freude und Leiden. Dies gehört zum Selbstständigwerden dazu. Haben Sie dagegen Angst, ein Kind in die Eigenständigkeit zu entlassen, so überträgt sich diese Angst auf das Kind und verunsichert es. Wenn Sie dem Kind oft genug erzählen, dass es vom Baum herunterfallen wird, sobald es hinaufklettert, wird dies auch eintreffen. Man spricht in diesem Zusammenhang von der sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Im Mittelpunkt der Erziehung steht die Wertschätzung des Kindes
Ihr erzieherisches Handeln zeichnet sich durch sorgfältige Beobachtung aus. Sie verzichten auf vorschnelle Eingriffe in das Leben des Kindes. Sie stellen eigene Neigungen und Wünsche, Vorstellungen und Ideen zurück zu Gunsten Ihrer Achtung vor der individuellen Persönlichkeit des Kindes. Dies ist eine der schwersten Aufgaben im Erziehungsprozess. Durch das genaue Beobachten und das Einfühlen in die Welt des Kindes nehmen Sie wahr, wo das Kind Bindung und Sicherheit braucht und wo es seinen eigenen Weg gehen will. Die Kinder sind sehr wohl in der Lage auszudrücken, wo Ihre Fürsorge sie in ihrem Tun und ihrer Entwicklung behindert. Lassen Sie auch die 3-jährigen Kinder die Gurken mit dem scharfen Messer schneiden. Unter Ihrer Anleitung wird das auch gelingen. So ist der Umgang mit den Kindern von einer sich ständig verändernden Balance zwischen Bindung und Autonomie geprägt. Im Mittelpunkt Ihres pädagogischen Handelns und Denkens stehen die Wertschätzung und Achtung der einmaligen Persönlichkeit eines jeden Kindes. Wenn Sie Kinder als eigenständige Individuen verstehen, die aktiv ihr Leben gestalten, heißt das, dass Sie die Kinder als Partner betrachten. Es geht dann nicht mehr darum, dass Sie das Kind mit Ihrem eigenen Denken und Fühlen, mit Ihrer Art, mit Dingen und Menschen umzugehen, vertraut machen. Vielmehr geht es darum, dass Sie sich darauf einlassen, die Welt ganz neu mit den Augen des Kindes zu sehen.