Interview: Kinder vor Kindesmissbrauch schützen

Laut der Statistik des Bundeskriminalamtes werden in Deutschland jedes Jahr circa 15.000 Kinder im Alter bis zu 14 Jahren sexuell missbraucht. Dies sind allerdings nur die Fälle, die auch angezeigt werden. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher und wird vom Verein "gegen-missbrauch e. V.“ auf 200.000 bis 300.000 sexuelle Übergriffe an Kindern geschätzt. Angesichts dieser erschreckenden Zahlen fragte die VNR-Redaktion Familien-Expertin Adelheid Fangrath, wie Eltern ihre Kinder vor Kindesmissbrauch schützen können.

Vom wem droht meinem Kind mehr Gefahr: fremden Männern oder Bekannten aus dem Umfeld?

Durch die Medien entsteht der Eindruck, dass hauptsächlich fremde Männer Kinder entführen, missbrauchen und anschließend töten. Tatsächlich finden über 80 Prozent der angezeigten Fälle gegen sexuellen Missbrauch im familiären Umfeld statt. Die Täter kommen aus allen sozialen Schichten, können jedes Alter haben und sogar von Frauen sind sexuelle Übergriffe an Kindern bekannt.

Die Kinder kennen den Täter und wehren sich nicht, weil sie gewohnt sind, Erwachsenen zu gehorchen. Da der Täter im Umfeld bekannt und geachtet ist, trauen sich die Kinder oft aus Scham nicht, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Diese wiederum wollen die Wahrheit gar nicht sehen und so sind die Kinder hilflos den Tätern ausgeliefert, die den Körper und vor allem die Seele der Kinder zerstören. 

Wie können Eltern erkennen, ob Ihre Kinder missbraucht werden?

Leider gibt es kein gängiges Muster, an dem die Eltern erkennen, dass ihre Kinder missbraucht werden. Das Verhalten ist auch vom Alter abhängig. Generell sollten Eltern aufmerken, wenn sich ihre Kinder drastisch verändern. Oft ziehen sich Kinder zurück und haben Kopfschmerzen oder Schlafstörungen. Plötzliches Bettnässen kann genauso ein Symptom sein wie ständige Bauchschmerzen. Die seelischen Qualen zeigen sich bei Schulkindern auch durch einen drastischen Abfall der Leistungen.

Auf keinen Fall sollten Eltern glauben, dass ein sexuell missbrauchtes Kind sein Herz bei ihnen ausschüttet. Zum einem schämen sich die Kinder und suchen häufig die Schuld bei sich. Außerdem sind die Täter äußert geschickt darin, die Kinder einzuschüchtern und sie so zu manipulieren, dass sie lieber schweigen und die Qualen ertragen.

Wie können Eltern Ihre Kinder vor Missbrauch schützen ohne sie zu ängstigen?

Wichtigste Maßnahme: Stärken Sie das Selbstvertrauen Ihres Kindes. Zeigen Sie Ihrem Kind Ihre Liebe und Zuneigung und sorgen Sie für eine angenehme Familienatmosphäre, in der alle miteinander reden. Ihr Kind wird weniger anfällig für die Schmeicheleien und Aufmerksamkeiten des Täters.

Stärken Sie Ihr Kind, „Nein“ zu Wünschen der Erwachsenen zu sagen. Jedes Kind hat das Recht, Küsschen und Umarmungen von Verwandten und Bekannten abzulehnen. Erwachsene müssen die Grenzen eines Kindes respektieren.

Achten Sie darauf, Ihr Kind altersgerecht aufzuklären. Kinder im Grundschulalter können Sie vorsichtig über pädophilie Täter informieren. Kinder sollen wissen, dass es nicht richtig ist, wenn andere sie gegen ihren Willen anfallen oder intime Körperteile berühren.

Regen Sie in der Grundschule an, ein Präventionstraining gegen sexuellen Missbrauch durchzuführen. Spielerisch lernen Kinder verschiedene Situationen kennen, in denen es um Missbrauch geht. Gemeinsam lernen sie, bei bestimmten Situationen laut „Nein“ zu rufen – das ist nämlich gar nicht so einfach.

Ein wichtiges Thema ist auch das Problem, einen Ansprechpartner für die Sorgen zu finden. Im Programm erfahren die Kinder von dem kostenfreien Kinder- und Jugendtelefon, der „Nummer gegen Kummer“: 0800-1110333.

Wie reagiere ich, wenn ich sexuellen Missbrauch bei meinem Kind vermute?

Wenn Sie glauben, Ihr Kind könnte sexuell missbraucht werden, müssen Sie behutsam vorgehen und zuallererst Ruhe bewahren. Denn alle beschriebenen Symptome können auch ganz andere Ursachen haben. Versuchen Sie zu Ihrem Kind den Kontakt zu verstärken und im Gespräch Themen wie unangenehme Berührungen anzusprechen. Wenn Sie sich unsicher fühlen, finden Sie kostenlose und kompetente Hilfe bei der Psychologischen Beratungsstelle Ihrer Gemeinde.

Wenn Ihr Kind von dem sexuellen Übergriff erzählt, sollten Sie es zuallererst für den Mut loben, darüber zu sprechen. Verzichten Sie auf Vorwürfe, weil es so lange geschwiegen hat. Reagieren Sie bitte auch nicht ungläubig auf die Aussagen des Kindes, dann könnte es sich wieder in sein Schneckenhaus zurückziehen.

Stärken Sie das Selbstvertrauen Ihres Kindes und erklären Sie unmissverständlich, dass Ihr Kind keine Schuld an dem Missbrauch trägt. Ertragen Sie es, über die Erlebnisse des Kindes zu sprechen und regen Sie an, dass Ihr Kind die Schrecken in einer Therapie verarbeitet.

Ihr Kind braucht in erster Linie Ihr Verständnis und Ihre Liebe, also zügeln Sie Ihre nur allzu verständlichen Hassgefühle und Rachegelüste. Sprechen Sie die weitere Vorgehensweise gemeinsam mit dem Kind ab. Manche Kinder empfinden es als zusätzliche Belastung, wenn der liebe Onkel wegen der sexuellen Übergriffe vor Gericht kommt. Andere fühlen sich besser, wenn der Täter angezeigt wird. Für sexuellen Missbrauch gibt es zwar keine generelle Anzeigepflicht, aber denken Sie stets daran, dass der Täter auch andere Kinder belästigen könnte.

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