Eine Gruselgeschichte für Kinder zum Vorlesen

Ob auf einer Übernachtungsparty, auf der Halloweenfeier oder am Lagerfeuer – diese Gruselgeschichte für Kinder sorgt für eine unheimliche Atmosphäre, ohne die Kids zu ängstigen. Lesen Sie die Geschichte mit leiser Stimme vor und heben Sie die Stimme bei gruseligen Passagen an. Kurze Erzählpausen bei schaurigen Textstellen helfen der Fantasie der Kinder, sich die Szenen bildlich auszumalen.

Sörens Mutprobe

„Na, du Angsthase“. „Hey, du machst dir vor Angst ja jetzt schon in die Hose“. Sörens Begrüßung durch seine Klassenkameraden fällt recht derb aus. Seit einem Jahr versucht er sich den Respekt der coolsten Jungenclique an seiner Schule zu verdienen. So gerne würde er dazugehören. Wenn da nur nicht die Mutproben wären. Sören traute sich nicht, im Schwimmbad vom 5-Meter-Brett zu springen. Er schaffte es nicht, in dem alten Abrisshaus zu übernachten. Und noch weniger konnte er sich überwinden, diesen ekeligen Regenwurm zu essen.

„Wehe, du versemmelst auch diese Mutprobe“, knurrt Kevin, der Anführer der Jungen. „Das ist deine letzte Chance“.

Sörens großer Auftritt findet Halloween statt. „Heute Abend erheben sich die Geister der Toten aus ihren Gräbern“, erklärt Kevin mit unheilvoller Stimme. Die Jungen haben sich alle als Gespenster verkleidet und schreien und stöhnen wild unter ihren weißen Bettlaken. Sören findet, ihr Gespenstergeschrei klingt eher nach einer Herde aufgescheuchter Kühe. Er selber hat sich als Zauberer verkleidet und er hofft ein klein wenig, von dem Mut eines Harry Potters beseelt zu werden.

Die Jungen zerren Sören auf den düsteren Friedhof und verbinden ihm die Augen. Eine Stunde lang soll er ausharren. „Du verlässt diesen Platze erst, wenn die Kirchturmuhr zehn Mal schlägt“, faucht ihn Kevin an. „Wir gehen inzwischen Süßigkeiten sammeln“.

Sören lauscht den Schritten, die sich geräuschvoll entfernen. Er glaubt nicht, dass die Jungen wirklich weggehen. Sie verstecken sich und werden versuchen, ihn zu erschrecken. Aber nicht mit ihm!

Sören atmet tief durch und beginnt zu zählen. Diesen Trick gegen Angstgefühle hat ihm sein Zahnarzt verraten. „Eins, zwei, drei…“ Etwas berührt Sörens Kopf. Ein Gespenst, schießt es ihm durch den Kopf. Unsinn, Gespenster gibt es nicht, das sind die Jungen die ihn mit einem Ast anstupsen, tadelt ihn sein Verstand.

„Neun, zehn, elf…“ Irgendetwas stupst an Sörens Schuh. Das sind die Toten, die nach mir greifen, fürchtet sich Sören. Aber dann entscheidet er, dass wahrscheinlich Kevin mit Steinen nach ihm wirft.

„34, 35, 36…“ Lautes Geraschel lässt Sören zusammenzucken. Es hört sich an, als wenn alle Verstorbenen aus ihren Gräbern krabbeln. Panik steigt in Sören auf. Beruhig dich, den Krach machen Kevin und seine Freunde, versucht er sich zu überzeugen.

„47, 48, 49…“ Sören zuckte erschreckt zusammen, als ein dumpfes Grollen ganz in seiner Nähe ertönt. Das ist zwar sehr laut, aber nicht wirklich unheimlich. Keine Ahnung, warum ihm dieser Krach Angst einjagen soll. Das klingt ja wie Löwengebrüll.

„51, 52, 53…“ Angsterfülltes Gekreische und wildes Gerenne lässt Sören aufhorchen. Aha, seine Kumpels fliehen vor einer unbekannten Bedrohung vom Friedhof. So ein Theater, grinst er erleichtert. Trotzdem ist er schwer beeindruckt, denn diese Flucht wirkte überzeugend echt.

109, 110, 111…“ Haben die Jungen aufgegeben? Ach nein, da nähert sich etwas. Das ist bestimmt der dicke Tobias, denkt Sören entspannt. Die Erde erbebt ja richtig bei seinen Schritten.

„155, 156, 157…“ Puh, das stinkt einfach nur grauenhaft. Das soll wohl den Gestank der Toten darstellen. Bestimmt hat Dennis diese Stinkbombe gebastelt. Der denkt sich immer so etwas Ekeliges aus.

„208, 209, 210…“ Eine grauenvolle Wolke schlechten Atems weht Sören ins Gesicht. Das ist nicht unheimlich sondern widerlich. Wie haben die das wieder hinbekommen? Vielleicht mit einem Blasebalg? Beeindruckend, wie sich die Jungen bei dieser Mutprobe ins Zeug legen. So viel Fantasie hätte er ihnen gar nicht zugetraut.

Sören ist so fasziniert von den Aktionen der Jungen, dass er sogar vergisst zu zählen. Um ihn herum herrscht ohrenbetäubender Lärm, so ähnlich klingt es wohl im tropischen Regenwald. Der Aufwand, den die Kumpels betreiben, ist ja erstaunlich. Aber sehr sinnvoll sind diese Aktionen nicht. Das merken schließlich auch die Jungen, und bald ist es wieder still auf dem Friedhof.

Und dann passiert etwas, womit Sören niemals gerechnet hatte: Er beginnt sich zu langweilen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlägt die Kirchturmuhr zehn Schläge. Erleichtert reißt sich Sören die Binde von den Augen. Auf dem Friedhof ist es stockdunkel. „Hey, ich habe die Mutprobe bestanden“, ruft Sören. „Könnt ihr eine Taschenlampe anmachen“.

Niemand antwortet. Sören ist viel zu sauer, um sich zu ängstigen. Ärgerlich sucht er den Weg zum Ausgang, aber in der Dunkelheit stolpert er ständig über Grabsteine. Endlich erreicht er die düster beleuchtete Straße. Merkwürdig, wie viele Straßenlampen heute flackern oder gar nicht brennen.

Ratlos macht sich Sören auf den Heimweg. Unterwegs findet er weiße Bettlaken, Halloweenmasken und zerfetzte Beutel mit zermatschten Süßigkeiten. Verkehrsschilder sind umgeknickt und Autoscheiben zerschlagen. Es sieht aus, als hätte in der Stadt eine Schlacht stattgefunden. Richtig unheimlich findet Sören, dass ihm keine Menschenseele begegnet.

Mit quietschenden Reifen stoppt ein Polizeiwagen neben Sören. „Junge, bist du verletzt? Steig sofort ein“. Ein Polizeibeamter springt hektisch aus dem Wagen und zerrt Sören auf den Rücksitz.

„Was ist denn passiert“, stottert Sören. „Junge, hast du die Tiere nicht gesehen?“ Sören zuckt mit den Schultern, aber in seinem Kopf tauchen Erinnerungen an die Erlebnisse auf dem Friedhof auf.

„Durch einen Stromausfall sind ganz viele Tiere aus dem Zoo ausgebrochen. Elefanten, Löwen, Affen und anderes Getier. Sie haben jedes Kind und jeden Erwachsenen gejagt, jeden, der vor ihnen davongelaufen ist“.
Der Polizist mustert Sören. „Ich glaube, du bist das einzige Kind, dass heute nicht verletzt wurde“.“

Einen Moment wird Sören schwarz vor Augen. Aber dann entscheidet er, dass es jetzt zu spät ist, um Angst zu haben.

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